Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Breakfast and Bed

 

Frau Kruse falzte andächtig die Filtertüte für die Kaffeemaschine. Sie nahm die zerbeulte Kaffeedose aus dem Küchenschrank und musste wie jedes Mal über den Tele-Tubby-Aufkleber schmunzeln, den Julia dort mit ihrer Kinderhand angebatscht hatte. Wie lange mochte das her sein? 13 Jahre? 14 Jahre? Sie strich versonnen darüber. „Ich muss nachher wieder Kaffee mitbringen“, murmelte sie für sich.

„Majanne!“, dröhnte es von oben aus dem Schlafzimmer. „Majanne?“

Sie mochte es nicht, wie ihr Mann ihren Namen aussprach. Dieses erschöpfte „e“ zum Schluss – wie ein letztes Ausatmen. Sie hieß doch Marianne: Mari wie Maria, die Mutter Gottes, und anne wie Anna, deren Mutter. Wahrscheinlich wusste er das nicht einmal.

„Jaha! Was ist denn? Ich mache gerade Frühstück.“

„Die braune Cordhose! Wo ist die?“

Frau Kruse ging auf den Flur zum Treppenabsatz. Den Kopf im Nacken rief sie: „Die ist noch in der Bügelwäsche. Zieh doch die graue an!“

„Da ist der Knopf ab. Komm doch mal hoch!“

Frau Kruse nahm die Kaffeedose in die andere Hand, damit sie sich am Geländer festhalten konnte. Das rechte Knie schmerzte bei jeder Stufe. „Ich habe vergessen, die Tropfen zu nehmen“, schalt sie sich, machte einen Moment Pause und guckte die fünf Stufen hinauf. So sah sie sich bis zum Gürtel ihres weinroten Bademantels im Spiegel, der zwischen der Schlafzimmertür und der des ehemaligen Kinderzimmers, das sie jetzt ab und zu, wenn in der Kreisstadt eine Messe stattfand, an deren Mitarbeiter als Bed and Breakfast vermietete.

Sie betrachtete ihr Spiegelbild. Neulich beim Dekanatstreffen hatte sie gehört, wie die junge Gemeindereferentin zu ihrer Nachbarin gesagt hatte: „Frau Kruse sieht aus als hieße ihr Mann Günther.“ Frau Kruse hatte genau verstanden, was sie damit meinte, dieses dumme kleine Ding.

Für die restlichen Stufen riss sie sich noch einmal zusammen. Ihr Mann musste nicht unbedingt wissen, wie sehr ihr das Gelenk in letzter Zeit zu schaffen machte.

Er saß in Unterhemd und Unterhose auf der Bettkante. Er wirkte so bedürftig. Am Hinterkopf stand wie immer eine Strähne seines ehemals eichhörnchenfarbenen Haars ab wie eine wippende Antenne. Welche Botschaften er damit wohl empfing? Das Wetter wahrscheinlich. Oder wo es den besten Apfelkuchen gab.

„Hast du den neu?“, fragte er bewundernd lächelnd.

„Den Bademantel? Den haben mir doch Verena und Angelika zum Geburtstag geschenkt.“

Sie wusste genau, dass ihre beiden Töchter ihren bevorstehenden Klinikaufenthalt im Hinterkopf hatten, als sie ihr das teure Stück zum Geschenk machten, und nicht etwa ihre Freude am Luxus, den sie sich selbst nicht gönnen würde, aber genießen konnte.

Er griff nach ihrem Unterarm und zog sie ein bisschen dichter zu sich heran. Er strich über den flauschigen Stoff. „Schön weich“, sagte er genießerisch. Sie ließ sich das Streicheln gefallen.

„Mir ist kalt.“

„Dann krabbel doch nochmal unter die Decke!“, schlug sie vor.

„Deine Hand fühlt sich eisig an. Komm auch nochmal mit rein, Marianne! Und tu endlich die Kaffeedose weg!“

Auf dem Nachttischchen war wie immer kein Platz, so stellte sie sie davor auf den Boden.

 Ihr Mann hob die Decke ein bisschen an und sagte aufmunternd: „Nun komm schon! Früher sind wir an Sonnabenden doch auch nochmal nach dem Frühstück ins Bett.“ Er stützte sich mit einem Arm auf, gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und löste mit der anderen Hand unter der Decke den Gürtel ihres Bademantels. „Hihi“, kicherte Frau Kruse leise, „das kitzelt.“

Sie dachte an ihre erste Verabredung mit ihrem Mann im Kino. Da hatte er ihren Tweedrock etwas hochgeschoben und über ihr Knie gestreichelt. Sie mochte, dass er sie nach all den Jahren noch begehrte, aber das sagen hätte sie nie gekonnt. Über Sex reden? Ihre Mutter hatte sie nie aufgeklärt. Die Oma, die geliebte, hatte ihr gesagt, was es mit dem Blut im Höschen auf sich hat, aber das war auch schon alles. Dankbar erinnerte sie sich an Dr. Neitzel, ihrem Junior-Chef in der Apotheke. Der hatte ihr damals als 16-jähriges Lehrlingsmädchen wortlos ein paar Tabletten zugesteckt, wenn sie sich kreidebleich vor Schmerzen krümmte am ersten Tag ihrer Regel. Auch hatte er in seiner Art, die so korrekt und überpersönlich wie sein Kittel war, ihr die Funktion der Geschlechtsteile – was für ein hässliches Wort, genau wie Grützwurst – erläutert. Die vielen lateinischen Begriffe, die er dafür benutzte, musste sie nachschlagen, aber sie waren gut gegen die Scham. Doch dass Helmut, der Bruder ihrer besten Freundin Irene, schwul war und dass es so etwas gab, da war sie schon längst verheiratet und hatte zwei Kinder, als sie davon erfuhr.

Sanft streichelte er ihre Brüste. Er war ein zärtlicher Mann. Nie ging er an ihr vorbei, ohne seinen Kopf an ihren zu lehnen oder sie liebevoll anzugucken. Der Akt selbst war nicht anders als vor 50 Jahren – 23 oder 73, egal. Die Medikamente gegen hohen Blutdruck, die er nun schon gut 20 Jahre nahm, hatten keine Auswirkungen auf seine Libido (Danke, Dr. Neitzel!). Vielleicht war es nicht mehr so aufregend, eher entspannend. Ihr Knie tat nicht mehr weh.

 Sie richtete sich auf, zog den Bademantel wieder über die Schultern und fragte munter: „Hast du auch Lust auf frischen Kaffee?“ Ihr Mann gab einen wohligen, zustimmenden Laut von sich.

Schwungvoll stellte sie die Füße auf den Boden. Es knackte. Die Kaffeedose war um eine Delle reicher.

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© Anne Wöckener-Gerber