Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Feierabend

 

Jewgenija klappte die Trittleiter aus und schob sie scheppernd an die Wand. Sie hatte sie sich vom Nachbarn ausleihen müssen. Andreas hatte ihre mitgenommen. Sie hatte noch eine Tube Spachtelmasse gefunden, die nicht eingetrocknet war. Es war auch erst anderthalb Jahre her, dass sie mit Andreas – frisch verheiratet – das Ladenlokal als Café hergerichtet hatte. Mit ihren 1,58 m musste sie drei Stufen der Leiter hochsteigen, um an die Löcher in der Wand zu reichen, wo die Haken für den Bildschirm angebracht waren. Andreas hatte ihn mitgenommen, es war seiner. Bis vorgestern flackerte darauf ein Kaminfeuer. Für den Frühling hatte  Jewgenija blühende Obstbäume mit summenden Bienen ausgesucht – vorbei.

Sie guckte sich im menschenleeren Café um: Der riesige Kronleuchter aus Glas hatte sie ein Vermögen gekostet, zauberte in ihren Augen aber sofort beim Hereinkommen diese elegante Atmosphäre, die sie unbedingt erzielen wollte. Die Tapete mit den breiten Streifen in Schwarz und Creme sollten diesen Eindruck verstärken und den Raum höher wirken lassen.

„Du bist so schön!“, sagte sie zum Kronleuchter, warf ihm ein Küsschen durch die Luft zu und verneigte sich leicht in alle Ecken des Raumes.

Mit einem Teelöffel drückte sie die Masse in ein Loch und versuchte, die Oberfläche zu glätten. Es blieben immer Rillen. Sie pfefferte den Löffel in eine Ecke, wo er an einer Fußleiste abprallte und unter einem der Sessel, die mit mauvefarbenem Samt bezogen waren, liegen blieb. Sie stieg runter, schrie: „Sukin syn!“ (russ.: Hurensohn) und spuckte aus.

„Alles okay?“ Alina, ihre 16-jähige Praktikantin, schob vorsichtig ihren Kopf durch die Tür vom Nebenraum.

Jewgenija rieb sich die schmerzende Stelle an der Schulter, wo Andreas sie mit ihrem Handy getroffen hatte, als er es nach ihr geworfen hatte. „Hast du schon die Ananas aufgeschnitten?“, entgegnete sie nur und machte sich gerade.

Alina konnte diese oft schroffe Art ihrer Chefin mittlerweile einschätzen, war ihr dankbar, dass sie ihr trotz des schlechten Abgangszeugnisses eine Chance gab. Die Torte – „Karibik-Traum“, für die sie die frische Ananas würfeln sollte, fand sie omamäßig, was sie Jewgenija jedoch nie sagen würde. Sie wusste, wie empfindlich sie auf Kritik reagierte. „Außerdem – was soll’s? Sollen die Omas das Zeug in sich reinschaufeln und fett werden.“, dachte Alina, „Hauptsache, ich kriege ordentlich Trinkgeld.“ Solange sie freundlich, aufmerksam und zuvorkommend war, durfte sie das ganze Trinkgeld behalten. Das hatte Jewgenija gleich zu Beginn klargestellt. Alina fiel es leicht, sich daran zu halten.

„Die Kokos-Chips darfst du erst kurz vor dem Anschneiden der Torte rösten und auf die Mascarpone-Creme streuen. Sonst werden sie zu schnell weich.“, belehrte Jewgenija Alina.

Alina wusste, was jetzt folgte. Jewgenija würde ihr einen Vortrag halten über Disziplin und Ehrgeiz. Sie setzte einen aufmerksamen Gesichtsausdruck auf, guckte Jewgenija an.

„Weil ich diesen Tipp meines Chefs behalten und beherzigt habe, habe ich bei der Meisterprüfung als Landesbeste meines Jahrgangs abgeschnitten. Da war ich erst 24, aber ich wusste schon immer, was ich wollte, und dass man sich dafür anstrengen muss.

Alina nickte brav.

„Als ich 1991 von Kasachstan nach Deutschland kam, konnte ich kaum ein Wort Deutsch sprechen, nur ein bisschen verstehen. Mit meinen 11 Jahren wurde ich in die 5. Klasse gesteckt. Das Mädchen, neben dem ich sitzen musste, frage mich nach meinem Namen. „Jewgenija“, anwortete ich. „Wie heißt du? Jessica?“ Jewgenija hatten sie noch nie gehört. Seither nennen mich die meisten Jessica. Deshalb auch „JessiCafé“.

Alina reckte ihren Daumen hoch und wiederholte andächtig. „JessiCafé“.

„Der Konditormeister, bei dem ich gelernt habe, war streng. Die Zuger Kirschtorte mit ihren drei verschiedenen Böden hat er mich fünfmal an einem Tag hintereinander backen lassen, weil sie nach seinen Maßstäben immer noch nicht gut genug war. Zwölf Stunden habe ich in der Backstube gestanden und geheult, aber dann hatte ich den Dreh raus.“

„Alter, ey!“, sagte Alina.

„Mit 19 wurde ich schwanger. Als der Typ das hörte, hat er sich mit dem miesesten aller Sprüche – „Lass uns gute Freunde bleiben!“ – verpisst. Ich wollte das Kind behalten. Meine Xenia, meine schöne, meine schlaue Xjuscha! Meine Großmutter“, Jewgenija schickte einen theatralisch-traurigen Blick durch die Decke zum Himmel, wo sie ihre Großmutter glaubte, „hat mir damals viel geholfen. So konnte ich die Meisterschule besuchen. Xenia hat Abi gemacht und studiert jetzt.“

Alina täuschte Erstaunen vor und riss die Augen weit auf. Sie kannte Xenia von den Wochenenden, wenn viel los war. Dann half sie mit aus. Sie mochte Xenias unkomplizierte, fröhliche Art. In der Küche sangen sie manchmal zusammen. Außerdem hatte sie coole Schminktipps.

„Als Frau musst du hart arbeiten, Alina, und kämpfen, meine Kleine.“ Jewgenija guckte auf ihre roségoldene Armbanduhr mit den Swarowski-Kristallen. „Du hast ja schon längst Feierabend. Geh nach Hause, Alina. Morgen pünktlich um 10 Uhr bist du wieder hier!“

„Ja, klar!“ Alina rutschte von dem Barhocker an dem Stehtisch, zog sich den Parka über, winkte Jewgenija zum Abschied zu.

Beim Rausgehen bemerkte sie den dunklen SUV des Kunden, der immer am Samstagvormittag kam, um für seinen Vater ein paar Stücke Torte und Kuchen zu kaufen. Jewgenija bestand darauf, ihn persönlich zu bedienen. Er bog in eine kleine Seitenstraße ab, sonst parkte er immer direkt vorm Café. Alina freute sich auf einen ruhigen Abend. Ihre Mutter hatte versprochen, Pelmeni zu machen.

 

Andi quetschte den SUV zwischen zwei Wagen am Straßenrand. So konnte das Kennzeichen nur mit Mühe erkannt werden. Seit Andreas, Jewgenijas Mann, ihn vor ein paar Wochen nach dem obligatorischen Kuchenkauf am Samstag bis zu ihm nach Hause verfolgt, vor der Haustür lautstark zur Rede gestellt und Prügel angedroht hatte, wenn er Jewgenija nicht in Ruhe lassen würde, war Andi noch vorsichtiger geworden, wenn er mit Jewgenija ein Date hatte. Wenn er ihre Sprachnachricht, die er gar nicht bis zum Ende angehört hatte, richtig verstanden hatte, hatten die beiden sich wohl auch seinetwegen heftig gestritten, sodass Andreas ausgezogen war.

Aber Sandra, seine Frau, war auch ein ständiges Risiko. Er war sich sicher, dass sie von seinen Eskapaden wusste. Manchmal machte sie Andeutungen, aber in die Offensive war sie bisher nicht gegangen.

Die Jahreszeit kam Andi entgegen. Es war später Nachmittag und bereits dunkel, sodass er unerkannt die 100 m bis zu ihrem Café gehen konnte. Jewgenija hatte den Hintereingang wie verabredet für Andi offen gelassen. Als sie die Tür hörte, kletterte sie wieder schnell auf die Leiter. Sie wollte, dass er sehen konnte, dass sie unter dem Kleid zwar eine hauchdünne Strumpfhose trug, aber keinen Slip. Andi betrat den Raum, scannte ihn blitzschnell und grüßte: „Hallo, meine Liebe!“

Er guckte verwundert zu ihr hoch. „Was machst du da?“

„Ich lasse mich fallen.“, lachte Jewgenija und ließ sich in seine Richtung fallen.

Gerade noch konnte Andi seine Arme ausbreiten und sie auffangen.

„Spinnst du?“, fuhr er sie an.

Jewgenija schluckte.

„Schon gut.“, sagte er lahm.

„Du siehst so verdammt gut aus!“, sagte Jewgenija und versuchte dabei besonders verführerisch zu klingen. Andi besaß viel Ähnlichkeit mit Michael Ballack, den sie und ihre Freundinnen als Teenies „supersüß“ fanden. „Noch besser als der Kronleuchter.“, schob sie witzelnd nach.

„Hä?“

„Egal.“

„Ich hätte jetzt Bock, dich anzupinkeln. Oder du mich?“

Jewgenija wurde schlagartig übel. Sie verabscheute diese Praktik. Sie wollte ihren Ekel jedoch nicht zeigen und reagierte ausweichend: „Ich habe hier doch keine Dusche für danach.“

„Ach, ja.“, sagte Andi. „Ich habe nur 20 Minuten Zeit. Sonst wird Sandra misstrauisch.“

Er bugsierte Jewgenija in den Lagerraum.

„Zieh dein Kleid aus!“

Jewgenija wiegte sie vor ihm in den Hüften und nestelte im Nacken am Reißverschluss herum.

„Ich mach‘ das!“, drängelte Andi und zog ihr das Kleid über den Kopf.

Ihren neuen raffinierten BH ließ er ungewürdigt.

„Bück dich!“

Er öffnete seine Hose und schob sie ein Stück herunter. Jewgenija beugte sich vornüber und suchte Halt an einem Regalboden. Er riss ein Loch in den Schritt der Strumpfhose, drückte Jewgenija mit seiner Hand auf ihrem Rücken noch etwas tiefer und drang in sie ein. Jewgenija stöhnte auf als würde ihr das große Lust bereiten. Nach ein paar harten Stößen spürte sie, wie ihr sein Sperma die Innenseite der Oberschenkel herunterlief.

„Schön!“, kommentierte Andi und ging auf das Gäste-WC. Jewgenija huschte auf das des Personals. Als sie zurückkam, hatte er sich bereits wieder vollständig angezogen.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte Jewgenija.

„Weiß ich noch nicht, muss ich gucken.“

Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf dem Mund, „Ciao, meine Liebe!“ und war weg.

Jewgenija zog die Strumpfhose aus und riss sie mit lautem Ratsch ganz kaputt. Sie dachte kurz an ihre Verhaltensregel „Kein Verhältnis mit einem verheirateten Mann! Insbesondere nicht mit einem, der behauptet, von seiner Frau in Sachen Sex vernachlässigt zu werden“, die sie gerne ihrer Tochter und Alina predigte. Dass sie mit Andi dagegen verstieß, verzieh sie sich. Als er mal wieder über Sandra gelästert hatte, hatte sie ihn gefragt „Mit wem bist du gerne zusammen“. Er hatte ihre Hände genommen und geantwortet „Mit dir z. B.“.

Andreas war in ihren Augen einfach eine Fehlentscheidung gewesen, doch seine finanzielle Unterstützung war sehr gelegen gekommen. Dass es heute mit Andi nicht so toll war, schob sie beiseite.

Sie hatte immer Kleidung zum Wechseln im Café und entschloss sich, noch schnell zum Baumarkt zu fahren, um einen Spachtel und ein paar weitere Heimwerker-Utensilien zu kaufen.

Der Parkplatz dort war fast leer kurz vor Schließung. So fiel ihr auf dem Weg zum Eingang Andis SUV gleich auf. „Vielleicht können wir im Dunkeln noch ein bisschen knutschen…“ erhoffte sich Jewgenija. Sie trat an die Tür der Beifahrerseite und guckte hinein. Sie sah direkt auf das Display von Andis Smartphone: Xenia nackt in erotischer Pose. In diesem Moment bemerkte Andi Jewgenija. Sofort drehte er das Handy um. Sie starrten sich an.

Jewgenija sah, dass die Türen verriegelt waren. Sie knallte ihre Handtasche gegen die Scheibe.

„Lass das!“, brüllte Andi hinterm Lenkrad.

Jewgenija machte zwei Schritte zum Vorderreifen, benutzte ihn als Tritt und legte sich bäuchlings über die Motorhaube.

Andi hupte wild. 

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© Anne Wöckener-Gerber