Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Der kranke Eingebildete

 

Das Foto flatterte aus einem Stapel von Cartoons, unbezahlten Rechnungen und Jazz-CDs, als Peer ihn ein bisschen beiseite schieben wollte. Er rollte mit seinem Schreibtischstuhl zurück und hob es auf. Die Ränder waren abgestoßen, an einer Seite leicht eingerissen. Ein altes Foto. Peer wusste, dass auf der Rückseite das Aufnahmedatum in der großen, weichen Handschrift seiner Mutter stand: 17.6.1977. Er erinnerte sich an den Tag, konnte jedoch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es die eigene Erinnerung, das häufige Erzählen durch die Eltern oder eben dieses Foto war, das dieses Gefühl hervorrief. Wenige Tage später hatte er seinen fünften Geburtstag gefeiert und sollte nach den Sommerferien die Vorschule besuchen. Die sieben Wochen bis dahin erschienen ihm wie eine Ewigkeit.

17. Juni – Feiertag. Die Eltern hatten länger geschlafen. Peer war früh aufgewacht. Aus dem Zimmer seiner Schwester hatte er den Kassettenrecorder dudeln gehört, aber er hatte keine Lust, zu ihr rüberzugehen; denn sie hätte nur wieder versucht, ihm Schach beizubringen. Ihm ist langweilig gewesen. Er wollte sich ein Glas Orangensaft aus der Küche holen, da klang das Lachen der Eltern aus deren Schlafzimmer. Peer hatte die Tür geöffnet,  Anlauf genommen und war zu ihnen ins Bett gesprungen. Seine Mutter hatte ihn gepackt, Nase und Mund an seinen Hals unterhalb des Ohrs gedrückt und losgeprustet, dass es wie pupsen klang. Er fand das schrecklich eklig, aber sie machte es immer wieder. Sein Vater hatte sie an den Fußsohlen gekitzelt, sodass sie von Peer abgelassen hatte.

„Komm her, kleiner Mann!“, hatte sein Vater lachend gerufen und sich auf den Rücken gelegt. „Willst du?“ Dabei  hatte er seine Arme so angewinkelt, als wollte er Gewichte über seiner Brust stemmen.

Peer liebte dieses Spiel aus Vertrauen, Kraft und Gleichgewicht. Er hatte sich auf den angespannten Bauch seines Vaters gestellt, der hatte  Peers Fußknöchel umfasst und ihn langsam und vorsichtig ausbalancierend hochgeschoben. In dem Moment, wo sein Vater die Arme durchgestreckte hatte, hatte Peer seine Arme ausgebreitet und gerufen: „Ich bin der Größte!“.

Klick. Seine Mutter hatte diesen Augenblick mit dem Fotoapparat festgehalten.

Sein Vater hatte ihn mit einer geschickten Drehung in die Daunendecke plumpsen lassen.

Den geringelten Schlafanzug mit den zu kurzen Hosenbeinen, den er auf dem Foto trug, empfand Peer schon damals als Demütigung.

Er betrachtete die großen Hände und kräftigen Unterarme seines Vaters, die am unteren Bildrand zu sehen waren. Beim Armdrücken war er nie zu schlagen gewesen, aber laufen konnte er nie so schnell wie Peer. Sein Vater war immer stolz auf ihn als wendigen, intelligenten Fußballer und begleitete ihn häufig zu Spielen.

Diese Hände hatten ihn auch ins Haus getragen, als er mit 14 Jahren bei seinem ersten Vollrausch dank Tequila im Vorgarten zusammengesackt und im Erbrochenen liegengeblieben war.

Ein Mal, ein einziges Mal hatte sein Vater ihn damit geschlagen. Das war erst vier Jahre her. Es amüsierte Peer noch immer. Er gab diese Geschichte gerne in Bierlaune zum Besten, am liebsten bei einer Grünkohlwanderung oder Kanutour mit seinen Kumpels aus Jugendtagen, obwohl Lars, mit dem er vom ersten Schultag an befreundet war, beim letzten Treffen „Ach, halt ’s Maul!“ gesagt hatte. Peer hatte darauf mit einem Psycho-Spruch – so nannte er das - seiner Ex-Frau reagiert: „Man erzählt eine Geschichte so lange, bis sie verstanden wird.“ und gelacht.

Er konnte die Begebenheit mittlerweile auswendig hersagen, sodass er nur noch an der Performance zu feilen brauchte. Peer ließ die Sitzfläche seines Stuhls ein paar Zentimeter höher fahren, damit er sich wie auf einem Barhocker fühlen konnte. Er lehnte sich lässig zurück, schlug die Beine übereinander, machte seinen PC zum Zuhörer und erzählte: „Nach fünf Jahren Ehe sagte ich zu meinem Vater – wir guckten gerade zusammen Sportschau, Inga und ich trennen uns. Wir lassen uns scheiden.“. Peer schwenkte einen imaginären Tumbler. „Da hielt er mir eine Standpauke: „Peer, dass es so gekommen ist, ist deine Schuld. Ich glaube nicht, dass du Inga wirklich geliebt hast. Das ist schon schlimm genug, aber schlimmer ist, dass dir die innere Stimme der Selbstkritik fehlt.“ „Papa“, sagte ich, „Papa, dann fick du sie doch!“ Peer grinste bei der Erinnerung an den entsetzten Gesichtsausdruck seines Vaters. Die Geschichte war noch nicht zuende: „Zack! Da hatte ich ein paar sitzen! Mein Vater hatte mir doch tatsächlich eine Ohrfeige verpasst. Ich hatte wohl ins Schwarze getroffen – er war scharf auf Inga.“ Peer war zufrieden, haute mit einer Hand auf die Tischplatte wie beim Aufbruch aus einer Kneipe und senkte den Stuhl wieder ab.

Inga, seine Ex-Frau, die nordische Schönheit. Peer schob den Gedanken an sie beiseite, fuhr den Computer hoch und öffnete eine der zahllosen Porno-Seiten auf der Suche nach dem ultimativen Kick – auch in der Hoffnung, die seit kurzem aufgetretenen Erektionsstörungen beheben zu können. Bei dem Selbsttest dazu im Internet, hieß es, dass es dafür körperliche, seelische, kulturelle und interpersonelle Ursachen gibt. „Tja, vielleicht ein bisschen zu viel und zu oft gesoffen in letzter Zeit“, beruhigte sich Peer, „… und Scheiß auf Inga!“

Als es nach vier Jahren Ehe in ihrer Ehe zu kriseln begonnen hatte, hatte sie während einer Auseinandersetzung einen pinkfarbenen Schuhkarton aus ihrem Kleiderschrank geholt und  ihn den mit den Worten „Mach auf!“ in die Hand gedrückt. Die Schachtel war gefüllt mit Vibratoren in verschiedenen Formen, Größen und Farben. „Endlich mal einen Orgasmus! Wenn du nicht da bist“, hatte Inga gesagt und war sich lasziv mit der Zunge über die Lippen gefahren. Das hatte Peer auf der Stelle derartig scharf gemacht, dass er ihr zwischen die Beine gefasst hatte. Inga hatte seine Hand weggeschlagen und war ins Bad gelaufen, von wo er Würgegeräusche gehört hatte.

Sein Telefon klingelte. Peer dachte: „Festnetz? Wer ruft mich denn darauf noch an?“. X-mal hatte er sich schon vorgenommen, es abzumelden, weil die Leute, mit denen er zu tun haben wollte, seine Mobil-Nummer kannten. Trotzdem hob er ab.

„Ja?“

„Peer? Hier ist Katrin.“

Peer zögerte. Katrin – so hieß jede zweite Frau seiner Generation. „Hi!“, sagte er desinteressiert.

„Peer, Mama geht es nicht gut. Sie liegt im Krankenhaus.“

„Scheiße!“, dachte Peer. Es war seine Schwester. „Was ist denn passiert?“, fragte er und klickte sich nebenher durch die verschiedenen Angebote von Lesben-Pornos.

„Verdacht auf Herzinfarkt. Sie wird jetzt erst einmal durchgecheckt.“

„Ja, das ist gut.“ Den Aufmacher mit den beiden weißblonden Frauen in schwarzer Latex-Wäsche fand Peer vielversprechend.

„Peer, du kannst doch morgen mal hinfahren.“

„Ich? Wieso ich?“

Ich wohne fast 500 km entfernt, habe einen Beruf und eine Familie, du hingegen nur 80 km, hast keine Familie.“

Peer hasste es, wenn seine Schwester ihm Vorschriften machen wollte. Das war schon so, als sie klein waren: Es war der vierte Advent. Katrin wäre an der Reihe gewesen, die Kerzen an der Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge zu entzünden, doch er wollte das. Sie hatte verlangt, dass er ihr die Streichhölzer gab, aber er hatte sich geweigert. Katrin hatte ihre Hände über die Kerzen gehalten. Da hatte er eins angemacht und unter Katrins Finger gehalten, dass sie vor Schmerz und Wut aufschrie und zu weinen anfing.

„Mein Auto ist in der Werkstatt“, log er fantasielos.

„Schon wieder?“

„Ist nicht meine Schuld“, sagte er trotzig und zog den Stecker heraus.

Peer öffnete seine Hose, umfasste seinen schlaffen Penis und flüsterte: „Komm her, kleiner Mann! Sei der Größte!“

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© Anne Wöckener-Gerber