Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Stillhalten

 

Die Kopfschmerztabletten wirkten nicht. Zwei Stück hatte Antje gleich genommen, weil sie sofort gespürt hatte, dass sich in ihr etwas heftig zusammenbraute.

Sie massierte sich den Nacken, rieb sich die Schläfen – keine Linderung. Sie setzte sich ein bisschen aufrechter im Ehebett hin, schob sich die Kissen im Rücken zurecht.

Sie musste doch jetzt klar denken. Das konnte sie am besten im Bett. Schon immer war es ihr Rückzugsort gewesen, als Kind beim Streit mit den jüngeren Schwestern, im Schwesternwohnheim vor dem hemmungslosen Treiben der Mitbewohnerinnen, als Ehefrau und Mutter vor dem unromantischen Alltag. Zwar teilte sie sich seit 24 Jahren das Bett mit Hauke, aber meist ging er eher schlafen und stand früher auf als sie und war tagsüber unterwegs, sodass es für sie „mein Bett“ war. So hatte sie sich auch den Fernseher im Schlafzimmer erkämpft. Hauke war überzeugt, dass er ins Wohnzimmer gehört, als Treffpunkt für alle. Deshalb durften auch die Kinder keinen in ihren Zimmern aufstellen. Hauke vertrat einige dieser strammen pädagogischen Standpunkte.

Antje griff aus Gewohnheit nach der Fernbedienung auf ihrem Nachttisch. Der Fernseher ging nicht an. Da fiel ihr wieder ein, dass sie den Stecker rausgezogen und den des Bügeleisens reingeschoben hatte. Der Berg Bügelwäsche schien sie vorwurfsvoll anzugucken – vor allem das blaugraue Leinenhemd. Dessen Etikett eines Designers für Herrenmode hatte Hauke nicht herausgetrennt, weil er wohl meinte, sie könne mit dem Namen ohnehin nichts anfangen. Da irrte er sich. Auch wusste sie, dass sein Preis fast 400 Euro betrug. Die Oberhemden, die sie sich leisten konnten, durften höchstens 50 Euro kosten. Klar, DIE hatte es ihm geschenkt. DIE – so nannte Antje Haukes Geliebte, die derzeitige – vielleicht sogar derzeitigen, die verflossenen und die zukünftigen. DIE war in diesem Fall wahrscheinlich die Radiologin aus Zürich. Antje warf mit der Fernbedienung danach.

Die Kopfschmerzen pulsierten, dass ihr die Tränen in die Augen traten.

„Mama?“

Bevor Antje antworten konnte, wurde die Zimmertür aufgerissen. Im Türrahmen stand Robin – groß, breitschultrig, er wirkte für seine 18 Jahre sehr erwachsen.

„Mama?“

Antje wäre es lieber gewesen, wenn ihre Kinder sie Mutti genannt hätten. Mama klang in ihren Ohren zu kindlich.

Ihr fiel auf, dass Robin ein Marken-Poloshirt und eine Jeans trug, die seinen athletischen Körper betonten. War das alles neu? Woher hatte er das Geld? Seit wann legte er so viel Wert auf sein Äußeres?

Sie blinzelte kurz. „Ja?“

„Dana kommt nachher. Wir wollen zusammen kochen. Haben wir Sahne?“

Dana – natürlich. Robin und seine Mitschülerin waren schwer verliebt. Ein nettes Mädchen, Antje mochte Dana.

„Ja, da müssten zwei Becher sein.“

„Super!“ Robin wandte sich halb zum Gehen, da drehte er sich nochmal um. „Bist du noch sauer wegen vorhin?“

So pampig und schroff Robin manchmal war, genauso einfühlsam, charmant und kommunikativ konnte er sein. Typisch Sandwich-Kind, befanden Antje und Hauke in solchen Momenten.

Antje schloss die Augen und rieb mit dem Handballen darüber. „Nein, ist schon gut. Ich habe nur mal wieder Kopfschmerzen.“

Robin schloss die Tür von innen und setzte sich auf Haukes Seite ans Fußende des Kiefernholzbettes. Das Gestell ächzte. Eine dicke kurze Schraube fiel auf das Laminat – klack – und rollte in Robins Richtung. Er hob sie auf und guckte seine Mutter fragend an. Antje zeigte auf das Schälchen in der Fensterbank mit Sicherheitsnadeln, Büroklammern und Kupfermünzen.

„Ich drehe sie nachher wieder rein“, versprach er ihr. „Das war blöd von mir. Tut mir leid.“

„Ach, die Schraube fällt häufiger raus. Das Bett ist eben alt.“

„Nein, nein“, sagte Robin leise und schob die Füße in den handgestrickten Socken hin und her. „Ich meinte meine Frage von vorhin. Ob du etwa eifersüchtig bist. Papa und du ihr habt euch dann so komisch angeguckt.“

Antje stützte die Hände neben den Hüften auf und schob sich etwas höher. So leichthin wie möglich sagte sie: „Das bisschen Lidschatten-Geglitzer an seiner Wange stand ihm ganz gut. Fandst du nicht? Mach nicht so ein Gesicht, Robin! Wir wissen doch alle, dass er ständig von allen möglichen und unmöglichen Leuten umarmt wird. Hast du die Sachen neu, das Shirt und die Jeans?“

„Ja, Dana und ich waren letzte Woche shoppen, hat sie mir ausgesucht.“ Er schaute ihr prüfend ins Gesicht. „Warum schminkst du dich nie?“

Antje rechnete nicht damit, von einem Sohn dergleichen gefragt zu werden. Sie nahm an, so etwas würden nur Töchter wissen wollen. „Weil Papa mich auch so liebt, ohne dass ich aufgetakelt bin.“ Sie wies mit einer Kopfbewegung auf Robins Kleidung. „Hattest du noch so viel Taschengeld dafür?“

„Nein, Papa hat was dazugeschossen, naja, das meiste.“

„Aha.“ Die zweite Silbe geriet ihr zu lang. Es wirkte überrascht und genervt. Das wollte sie eigentlich vermeiden. „Bist du nur wegen der Sahne gekommen? Da hättest du auch schnell im Kühlschrank nachsehen können.“

Robin stand auf und schob die Hände in die Gesäßtaschen. „Dana wird hier übernachten.“

„Gerne, kein Problem. Ich beziehe gleich das Bett im Gästezimmer für sie.“

„Nein, Mama! Dana wird mit bei mir schlafen“, entgegnete Robin. Seine Stimme war plötzlich scharf und laut, sein Blick mitleidig herablassend. Er ging, zog die Tür knallend hinter sich zu.

In Antje schnurrte etwas zusammen. Ihr Magen fühlte sich an wie eine dieser Trommeln in einem Staubsauger, die das Kabel einfuhren, wenn man auf eine Taste trat.

Sie dachte daran, wie sie das erste Mal bei Hauke mit im Bett geschlafen hatte. Es war ihre Hochzeitsnacht, in einem der Fremdenzimmer des Gasthofs, wo sie gefeiert hatten. Hauke war ihr erster Freund, ihr erster Mann. Er hatte es respektiert, dass sie sich ihm erst in der Hochzeitsnacht ganz schenken wollte. Sie ahnte, dass er sexuelle Erfahrungen mit Frauen hatte, aber genau wissen wollte sie es nicht. Sie war der Überzeugung, dass es sich dabei nur um eine Art Leibesübungen gehandelt haben konnte, aber sie, Antje, liebte er doch. Jedenfalls konnte sie ihm das manchmal entlocken.

Antje ertappte sich dabei, dass sie davon ausging, dass Robin und Dana in dieser Nacht im Nachbarzimmer Sex habe würden. Sex war für sie gleichbedeutend mit dem Eindringen des Glieds in die Scheide. Aber vielleicht würden die beiden auch nur kuscheln und einander streicheln, oder? Sie hoffte sehr, dass Hauke seinem Sohn beim Aufklärungsgespräch auch die weibliche Sicht nahebringen konnte. Sex war für sie der intensivste Moment weiblicher Hingabe und Empfangens. Verhütung hatte sie dabei immer als widersprüchlich und widernatürlich empfunden. Die Lust bestand in der Vereinigung.

Neulich im Wartezimmer beim Zahnarzt hatte sie in einer Zeitschrift von Menschen gelesen, die sich als asexuell bezeichneten. Deren Berichte hatten sie zugleich verstört und beruhigt. Haukes Versuche, sie zu erregen, waren von Anfang an gescheitert. In der Hochzeitsnacht hatte er anzüglich gegrinst und gesagt „Du kommst, äh, das kommt schon noch.“, aber es blieb dabei, dieses ganze feuchte Getue war ihr zuwider und steigerte sich in letzter Zeit zu körperlicher Abneigung bis ins Schmerzhafte. Dennoch bat sie Hauke darum, wenn er drei, vier Tage nicht mit ihr geschlafen hatte. Er freute sich dann, weil er glaubte, es würde ihr auch gefallen. Antje freute sich, wenn er sich freute.

„Mama?“ Robin stand schon wieder in der Tür, mit der einen Hand auf der Klinke und der anderen am Rahmen. „Wo ist Papa?“

„Er wollte zum Training und anschließend fürs Wochenende einkaufen. Warum? Brauchst du das Auto?“

„Nein, ich wollte ihn fragen, ob er noch Kondome hat?“ Weg war er.

„Waaas???“ hätte Antje beinahe geschrien, doch sie hatte ihre aufsteigende Angst unter Kontrolle. „Ganz ruhig!“ rief sie sich tonlos zur Ordnung. „Klar denken!“ Was hatte das „noch“ in Robins Frage zu bedeuten? Hatte Hauke ihm bereits mal welche gegeben oder hatte Robin welche bei ihm gefunden? Hauke musste Kondome vorrätig haben wegen DIE. Ok, ok, aber merkte Robin etwas? War er ihrem unausgesprochenem Agreement auf der Spur?

„Robin?“

Dumpf hörte Antje aus dem Nachbarzimmer Robins Stimme: „Ja?“

Sie rief gegen die gemeinsame Wand: „Ich wollte heute Papas Lieblingsgericht machen. Wollen wir nicht alle zusammen essen?“

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© Anne Wöckener-Gerber