Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

In ihrer Welt

 

Die Kälte der Steintreppe spürte Jochen durch seine Filzpantoffeln hindurch. Vom Erdgeschoss zum Dachboden brauchte er bei normalem Gehtempo etwa 140 Sekunden. Den Aufzug zu nehmen, ginge nur schneller, wenn er gleich zur Stelle wäre und durchfahren würde. Jochen hatte das alles zig-mal ausgetestet und entschied sich fast immer für die Treppe. Eine Ausnahme machte er, wenn er beim Verlassen seiner Wohnung Stimmen von den Mietern im Treppenhaus hörte. Meistens machte er sich am späten Vormittag auf den Weg, wenn er sicher sein konnte, dass alle bei der Arbeit waren oder mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen begannen. 

„41, 42“, zählte Jochen leise beim Gehen die Stufen mit. 

„Hallo, Herr Schwarze!“, rief jemand von oben übers Geländer. 

Jochen blieb erschrocken stehen und hielt sich am Handlauf fest. 

„Habe ich Sie erschreckt? Das tut mir leid.“, sagte der junge Mann. 

Jochen wehrte mit einer Hand ab und sagte mit dem Kopf im Nacken: „Da habe ich wohl geträumt.“ und kicherte ein bisschen. 

„Herr Schwarze, kann der Techniker morgen auf den Dachboden? Bei uns funktioniert das Internet immer noch nicht.“

„Sicher, sicher. Ich schließe ihm dann auf.“

Jochen stapfte an dem jungen Mann, dem neuen Mieter vorbei. „49, 50“, hörte der junge Mann und sah Jochen bis zur Biegung nach. 

Jochen hielt plötzlich wieder inne. Er hatte durch die überraschende Unterbrechung vergessen, auf dem Treppenabsatz des 2. Stocks einen Moment zu verharren, um auf Geräusche aus Alettas Wohnung zu achten. Er drehte sich mit der Herzseite um und stieg wieder runter. „56, 57, … 45!“ Er bewegte im Stehen die Zehen in den Pantoffeln gegen die aufsteigende Kälte. 

Das Schild an Alettas Wohnungstür konnte er auf die Entfernung nur undeutlich erkennen, aber er wusste, was dort stand und sagte es für sich feierlich auf: „Aletta Döring. Medizinische Fußpflege. Termine nach Vereinbarung“. Er fragte sich wie jedes Mal, warum sie keine Telefonnummer angegeben hatte. Zu hören war nichts. 

„46, 47“

Im Dachgeschoss angekommen lauschte Jochen kurz ins Treppenhaus – keine Schritte, kein Türschnappen, kein Rauschen des Fahrstuhls. Er schloss die Tür auf. Licht fiel von Südosten durch die drei Fenster, dass es hell genug war.

„Fried“, entfuhr ihm der Name des jungen Mannes, er war ihm wieder eingefallen. Er lächelte zufrieden. Dann würde er sich bestimmt auch den seiner Freundin erinnern, war er sich sicher. 

Er ging auf den Winkel des ansonsten leeren Raums zu, den er hergerichtet hatte. Er zog die Pantoffeln aus und stellte sie auf eine Ecke des 4 qm großen Flokati und strich über den Überwurf des schmalen Doppelbetts. Er schloss die Augen und atmete ein paarmal tief bis in den Bauch hinein, so wie es Aletta ihm gezeigt hatte. Beim Öffnen fiel sein Blick auf die vier großen Pappkartons, die in einer Armlänge Entfernung eine Art Anrichte bildeten. Sorgfältig war darüber ein weißes Frotteelaken gebreitet. 

Jochen kramte aus seiner Hosentasche eine flache Plastikbox, die ein Staubtuch enthielt. Er rieb damit die drei Dosen mit verschiedenen Sorten Haarspray ab, die darauf lagen. 

Aletta hatte an den Balken darüber eine Fusselrolle, eine Taschenlampe und einen Schuhlöffel gehängt. Sie war die einzige der Mietparteien, die einen Schlüssel zum Dachboden besaß. 

Jochen tippte mit dem linken Zeigefinger die angebrochene Packung Tempos, die Rolle Küchenkrepp und eine kleine LED-Leuchte an. 

„Was will mir Aletta durch euch sagen?“, fragte er die sechs Teile auf den Kartons. Er suchte nach einem inneren oder äußeren Zusammenhang wie bei dem Rätsel „Vier Bilder, eine Gemeinsamkeit – welche?“ in der Wochenend-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, das er nie ausließ. Seine Augen wanderten von einem Gegenstand zum anderen. „Wohlstandsmüll! Das ist es! Wohlstandsmüll!“. Er rieb sich vor Vergnügen die Hände. „Aletta, Aletta! Da hätte ich doch gleich drauf kommen können.“ Er schlüpfte in seine Pantoffeln und verließ eilig den Raum.

„… 46, 45.“

Er klingelte an Alettas Wohnungstür, trat einen Schritt zurück neben den Gummibaum, den er ihr zum zehnjährigen Jubiläum ihres Einzugs geschenkt hatte. 

Aletta öffnete. Sie trug einen pinkfarbenen Kittel, hielt die medizinische Maske in der Hand. Ihre krausen Haare hatte sie mit einem bunten Seidentuch zurückgebunden. 

„Jochen! Du siehst ja total verfroren aus. Ich habe noch heißen Ingwertee. Soll ich dir einen Becher holen?“

Jochen starrte auf ihre rosa Crocs, aus denen eine kleine Sonnenblume und ein Eiffelturm aus Plastik hochstanden. 

„Was ist das?“, fragte er mit gesenktem Kopf.

Aletta folgte seinem Blick. Sie lachte. „Das sind Jibbitz.“

Jochen hob den Kopf und strahlte Aletta an. „Sie heißt Jil Benz. Die neue Mieterin. Jetzt ist es mir wieder eingefallen. Danke!“ 

„44, 43“

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© Anne Wöckener-Gerber