Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Reife Leistung

 

„Abi geschafft!“ Lilly hüpfte die Treppen des Altbaus hoch. Die ausgetretenen Stufen kamen ihren High Heels  diesmal nicht in die Quere.

„Kommst du nicht mit auf den Schulhof zum Anstoßen?“, rief ihr jemand hinterher.

„Ich will nur noch schnell meinen Spind leer räumen. Geht schon mal!“ Lilly legte sich auf das Linoleum und spürte durch das dünne Kleid die Kühle des Gemäuers. Die blonden Wellen breitete sie wie einen Heiligenschein um sich. Sie rutschte etwas zur Seite, sodass das Licht, das durch die Buntglasfenster fiel, ihr Kleid in ein rotes Gewand mit blauem Umhang verzauberte. Sie spürte ihrem Atem nach, schloss die Augen und lächelte versonnen.

Da fiel ein Schatten auf ihr Gesicht. Lilly öffnete die Augen und drehte etwas den Kopf. „Hej Nina! Wo kommst du denn her? Ich dachte, du bist mit den anderen draußen. Aber wo du schon da bist – kannst du ein Foto von mir machen? Aber so, dass man die Snickers im Spind nicht sieht! Hier, mein Handy.“

Nina stellte sich breitbeinig über Lillys Knöchel. „Für Herrn Matthes, was? Oder sagst du schon Claas?“

 Lilly setzte sich auf. „Was soll der Scheiß?“

„Denkst du, ich hätte dein plötzliches Interesse an Bio nicht bemerkt?“ Nina ließ ihre Stimme für einen Moment in Whisky baden: „Herr Matthes, ich würde gerne ein Referat halten. Herr Matthes, kann ich Sie mal sprechen? Herr Matthes, ich verstehe diese Aufgabe hier nicht. Können Sie mir bitte helfen?“

Nina beugte sich dicht zu Lilly hinunter. „Für wie blöd hältst du mich? Wie der dir immer hinhergeglotzt hat! Und dann hast du mit Max Schluss gemacht – angeblich deine große…“ Lilly fiel ihr ins Wort: „ Eifersüchtig? Du warst doch von Anfang an scharf auf ihn.“ Sie äffte Ninas leichtes Lispeln nach: „Ist der süß!“ Du hast ihm ständig gemailt und gesimst.“ Lilly nestelte an den Riemchen ihrer Sandalette. „Du kannst ihn haben, Nina. Magst du einen Snickers?“

„Du bist so abgefuckt!“

„Wir wollen doch nicht für so einen alten Sack – ok, er ist ziemlich sexy – unsere Freundschaft riskieren! Komm, hilf mir mal hoch! Die blöden Schuhe.“

Nina ging leicht in die Knie, reichte Lilly die Hand, riss sie mit einem kräftigen Ruck hoch, umfasste sie mit beiden Armen und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.

Lilly rappelte sich los. Sie wischte mit dem Handrücken über den Mund, aber der künstliche Melonengeschmack von Ninas Lipgloss blieb haften. Lilly würgte. Sie stolperte die Treppe hinunter. Das Handy glitt ihr aus der Hand und eilte ihr scheppernd voraus. Ein gelblicher Lichtstrahl verfolgte sie bis zur Kehre und entließ sie dann.

Nina schnappte sich einen Snickers und ließ die Folie über die Galerie im Treppenhaus hinuntersegeln. Ihr Handy schnurrte – David. „Hi, David, wie verabredet:  in fünf Minuten Jungstoilette 2. Stock.“

Sie zog sich blind die Lippen nach und öffnete einen weiteren Knopf ihrer knappen Bluse. „Geil“, dachte sie, „hier ´nen Quickie!“

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© Anne Wöckener-Gerber