Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Ein bisschen falsch

 

Der Schulgong hatte für heute seinen Dienst beendet. Oliver schob auf dem Pult seine Unterlagen zusammen und verstaute sie in einer Tasche, die ihm, dem angesagtesten Lehrer der Schule, ebenbürtig war. Er schlurfte auf den Gang. Zum Glück wollte ihn niemand mehr sprechen. Der Schulterriemen der überladenen Tasche scheuerte. Er verlagerte deren Gewicht, aber dann knackte es am hinteren Rippenbogen und die alte Surfverletzung würde ihn den restlichen Tag und die ganze Nacht plagen.

„Na, Herzilein!?“ So durfte ihn nur Sabine nennen. Er blieb stehen und drehte sich zu seiner Kollegin um.

„Nicht hier vor den Kindern! Du bringst uns damit noch ins Gerede!“, zischte er ihr überzeugend echt zu und gab ihr damit zu verstehen, dass er mitspielte. Das Spiel hieß „Die-Leute-reden-sowieso-also-lass-uns-daran-Spaß-haben“. Dabei wären sie als Paar eine echte Sensation gewesen: Sabine war in vielem ziemlich das Doppelte von Oliver – Gewicht, Alter, Examensnote, Lautstärke, Schulden, Kitschanfälligkeit.

Sabine wurde wieder ernst. „Kann ich kurz mitkommen auf einen Tee?“

Oliver hörte einen Unterton in ihrer Bitte. Was war das? Jedenfalls nichts Lockeres. „Klar, Tee passt immer“, lud er sie ein.
 

Sabine ruckelte sich tiefer in Olivers Sofa aus Studi-Zeiten und dachte: „Die Kissen könnten auch mal wieder in die Wäsche.“. Sie streifte einen Schuh ab und schob den rechten Fuß mit den lackierten Zehennägeln in Barcelona Red unter den Po. So würde er zwar bald einschlafen, aber im Moment brauchte sie eine Stütze, um sich aufzurichten.

Oliver schenkte ihnen beiden Orangentee ein.

„Ich hätte gerne eine Affäre“, sagte Sabine einen Tick zu munter in Richtung Kissen.

Der Tee floss über den Tassenrand. „Scheiße!“, schimpfte Oliver. Sabine wusste nicht, ob das der Teepfütze oder ihrer Äußerung galt. „Lass das!“, schob er nach.

Sabine guckte Oliver trotzig an.

„Wer?“, fragte er.

„Kennst du nicht. Wir haben uns bei dem Weinschmecker-Kurs kennengelernt, wo ich neulich an zwei Samstagen war.“

Die 17-Uhr-Sonne ließ den blank geputzten Samowar blitzen. Sabine schloss die Augen und sprach wie im Traum weiter: „Er spielt so innig Cello und sagt Sachen wie „Sie sind mir ja eine!“ und …“

„... und trägt kurzärmelige rot-blau karierte Hemden, oder?“, führte Oliver ihren Satz weiter.

Sabine riss die Augen wieder auf. „Nein, es war grün-grau gewürfelt“, entgegnete sie in gespielter Empörung.

Oliver lachte sein Jungenlachen, das die Frauen dazu brachte, ihm durch die Haare zu wuscheln. Sabine lachte dreiviertelherzig mit.

„Warum?“, wollte Oliver ehrlich wissen.

Endlich konnte Sabine weiter über ihn reden: „Er ist so wunderbar unflott, dabei ist er bestimmt zehn Jahre jünger als ich.“

„Und du willst ihn jetzt flott machen!?“

„Na ja, flötter.“ Sabine mochte Dinge, die ein bisschen falsch waren, so knapp daneben wie diese Steigerungsform. Wahrscheinlich war Oliver deshalb ihr einziger Freund – Männer waren sonst nicht so.

Ihr Fuß begann zu kribbeln. Jetzt schon! Vielleicht war sie doch zu fett. Ihr Hausarzt hatte „adipös“ gesagt. Das klang wie eine Mischung aus Adiletten und pompös.

„Nur eine kleine Affäre: zwei sonst wohlerzogene, zurückhaltende Menschen fallen übereinander her und haben wilden Sex“, sagte sie.

„Wohlerzogene, zurückhaltende Menschen fallen nicht übereinander her und haben wilden Sex.“, belehrte Oliver sie.

Sabine zog ihren Fuß hervor stellte ihn auf das Altbauparkett. Das weite Hosenbein war hochgerutscht, sodass sich auf ihrer Wade die Abdrücke von den Gesäßtaschen abzeichneten. Gedankenverloren rieb sie daran herum und starrte auf Olivers ausgefranste Nagelhaut der Hand, mit der er die Untertasse hielt. Dieses wohlige Prickeln, als sie sich offenbart hatte, war einer müden Trauer gewichen. Dennoch rumorte die Sehnsucht wie Hunger in ihrem Inneren.

„Möchtest du ein paar Kekse?“, fragte Oliver in die Stille, die wie dichter Nebel zwischen ihnen lag. Sabine nickte. Oliver war froh, diesem Dickicht für einen Moment zu entkommen. Er ging in die Küche, nahm einen Teller aus dem Schrank und kramte umständlich nach dem Shortbread aus dem kleinen Delikatessenladen, der sicherlich bald schließen würde. Er wollte den Augenblick nutzen, um nachzudenken, um wieder klar zu werden, aber seine Gedanken rutschten ihm weg wie Eiswürfel in einer warmen Hand, die dann auf dem Boden zersplitterten.

Der stechende Schmerz dort in seinem Rücken, wo sich eine portugiesische Klippe hineingebohrt hatte, ließ ihn die Luft anhalten. Nächstes Jahr würde er wieder fahren – Hawaii war zu teuer, aber Bali oder Andalusien. Er machte sich gerade, atmete bewusst tief hinein bis zum Becken und drehte sich um.

Sabine lehnte im Türrahmen. „Schmerzen?“, fragte sie mitfühlend. Sie hatte ihn einen Moment beobachtet und kannte ihn gut genug, um zu wissen, was dieser leere Blick und diese Brust-raus-Haltung bedeuteten.

„Andere Leute sammeln im Urlaub Muscheln, ich ziehe andere Mitbringsel vor: Grenzerfahrungen“, sagte er hochtrabend und selbstironisch. Es war erst wenige Wochen her, dass Oliver eine Welle falsch eingeschätzt hatte, von seinem Brett gerissen und auf den Meeresboden gedrückt worden ist. Nur Bruchteile von Sekunden länger und das Salzwasser hätte ihn mit Tod gefüllt. Es fühlte sich gut an: schwerelos, zeitlos. Doch dann hatte ihn eine Strömung an die Oberfläche gespült.

Oliver hielt Sabine den Teller mit Gebäck hin. Sabine langte zu. „Puh, schmecken die staubig! Nimm‘ s mir nicht übel, aber wann hast du die denn gekauft?“

Oliver fühlte sich in seiner Gastgeberehre gekränkt. „Vor ein paar Tagen erst.“ Er guckte auf die Verpackung nach dem Verfallsdatum. „Über ein halbes Jahr schon abgelaufen. Kein Wunder, dass der Bernhardt bald dicht machen muss.“

„Was?“, sagte Sabine erstaunt. „Das habe ich ja noch gar nicht gehört. Sonst bin ich doch immer diejenige, die mit dem Kleinstadttratsch auf dem Laufenden ist.“

„Tja, du verkehrst in letzter Zeit eben in den falschen Kreisen, siehe der kleinkarierte Cellospieler.“

Mit dieser Wendung des Gesprächs hatte Sabine nicht gerechnet, ihr traten Tränen in die Augen. Oliver nahm sie in den Arm und murmelte: „Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid.“

Sabine machte sich vorsichtig los, schlüpfte in ihre Mokassins, nahm ihre Tasche und sagte: „Bis morgen!“

Sie ging das kurze Stück bis zum Parkplatz der Schule, wo ihr Auto stand. Sie setzte sich hinter das Lenkrad und starrte auf die Stelle der Kühlerhaube, wo einmal der Stern geprangt hatte. Der alte Dieselmotor sprang zuverlässig an, doch sie bog nicht auf die Straße nach Hause ab, sondern Richtung  Zentrum. Direkt vor dem Geschäft – im Parkverbot – stellte sie den Wagen ab und ging hinein. Es war leer bis auf den alten Chef mit gestärkter weißer Schürze hinter der Käsetheke. „Guten Abend, Herr Bernhardt! Ich habe gehört, dass Sie Ihren Laden aufgeben wollen. Ich habe Interesse daran.“

Druckversion | Sitemap
© Anne Wöckener-Gerber