Einsamer Mund
„Nougat, Marzipan, Trüffel oder Krokant“, las Viola von der Unterseite der Pralinenschachtel ab. „Für jeden Geschmack was dabei.“, kommentierte sie. Ewald hörte ihre Geringschätzung darin. „Was für eine möchtest du?“, fragte sie ihren Mann.
„Trüffel!“, antwortete er ohne Zögern.
„Die haben den höchsten Fettgehalt und sind mit Alkohol.“ Viola guckte ihn über den Rand ihrer Lesebrille an. „Du weißt, dass sie schlecht für dich sind.“
„Ja“, sagte Ewald, schnappte sich zwei Pralinen und schob beide in den Mund.
„Ich gehe jetzt.“, sagte Viola und strich sich den kurzen Rock glatt.
„Biff späher!“, nuschelte Ewald und wischte sich verstohlen den schokoladigen Speichel aus dem Mundwinkel.
Die Haustür schlug zu. Ewald hörte das Scheppern des Garagentors, dann das Anspringen des Motors.
Er stemmte sich aus seinem Sessel und ging in den kleinen Raum, der früher sein Arbeitszimmer war.
Nach seiner Pensionierung vor fünf Jahren hatten Viola und er den Schreibtisch durch einen zierlichen Sekretär ersetzt und die Hälfte der Bücher entsorgt, um Platz zu schaffen für ein schmales Schlafsofa für ihr Enkelkind, wenn es zu Besuch kam. Nicht trennen mochte er sich von dem Telefon von 1972 mit Wählscheibe, dem schweren Hörer und dem spiralförmigen Kabel. All die Umzüge hatte es ihn begleitet und all die wichtigen Gespräche, die er damit geführt hatte, gespeichert – so empfand er es jedenfalls.
Er griff zum Hörer und wählte Violas Handynummer. Er genoss es, seinen Zeigefinger in die Löcher der Wählscheibe zu stecken und gegen den leichten Widerstand die zwölf Ziffern zu wählen und dem einzigartigen Geräusch zwischen Klackern und Schnurren, wenn die Scheibe in ihre Ausgangsposition zurückdrehte, zu lauschen.
„Viola, ich weiß, dass du jetzt bei Axel bist. Ich weiß, dass eure Beziehung schon länger mehr als eine freundschaftliche ist. Zuerst bin ich über einige Begriffe gestolpert wie „triggern“ oder „Narrativ“, die du plötzlich häufig benutzt hast. Dann ist mir eingefallen, bei wem ich sie gehört hatte: Axel. Wenig später hattest du ein neues Brillenetui mit einem Motiv von Caspar David Friedrich. Dass Axel ein Bewunderer dieses Malers ist und gerne Urlaub auf Rügen macht, wo es dergleichen Devotionalien en masse gibt, habe ich zufällig von Siggi erfahren, mit dem er Fußball spielt. Kleinstadt. Ein weiterer Hinweis war, dass du fast nur noch Röcke trägst wie damals vor 30 Jahren, als wir uns kennengelernt haben – so kurze, mädchenhafte, flatterige.“ Ewald wischte sich die feuchte Hand am Oberschenkel ab. „Viola, Axel ist kein Guter. Siggi hat mir auch erzählt, dass er seinen Trainerposten bei der Jugendmannschaft aufgeben musste, weil er ständig Affären mit den Muttis der Jungs hatte. Viola, das geht nicht gut aus!“
Ewald legte den Hörer auf. Sein Herz stolperte.
Er holte sein Handy aus der Jackentasche und rief Siggi an.
„Hallo, Ewald, wie geht’s?“, meldete sich Siggi.
„Siggi, du wolltest mir mal mein altes Telefon anschließen. Es funktioniert doch nicht, weil keine kleine Telefonanlage davor ist, die das Impulswahlverfahren unterstützt.“