Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Regenwetter

Es hatte die vergangenen Tage geregnet. Große Pfützen standen auf dem Bürgersteig, allein der Wendehammer war abgetrocknet. Der Wetterbericht verhieß keine großartige Änderung.

Sibylle überlegte, ob sie unter diesen Umständen das geplante Straßenfest am Wochenende nicht besser absagen sollten. Die anderen aus dem kleinen Festausschuss würden ihre Bedenken sicherlich teilen. Man könnte schließlich den Termin ein bisschen verschieben, vielleicht ganz spontan in einer weniger aufwändigen Form feiern.

Sie griff nach ihrem Smartphone, das sie auf die anthrazitgraue Granitplatte ihrer Einbauküche gelegt hatte. Kai hatte damals vor zehn Jahren beim Bau ihres Hauses auf diesem Element bestanden. Er fand es edel, Sibylle unpraktisch, weil man sofort den kleinsten Krümel darauf sah. Wenn er in die Küche kam, griff er zwanghaft nach einem Tuch, um darüber zu wischen. Sibylle nannte ihn dann Antikrümelmonster, was er mit einem energischen Strich über die Fläche quittierte. Leonie hatte er untersagt, dort ihr Brötchen aufzuschneiden.

Sibylle wollte Jürgen, der wohl allen beim Hausbau in ihrer Straße geholfen hatte, und Nora, die erst vor einem Jahr mit ihrem Mann und den beiden süßen Söhnen in das Neubaugebiet gezogen war, eine Nachricht mit ihrem Vorschlag schreiben.

Leonie schlappte herein. Mit der typischen Ausstrahlung einer Zwölfjährigen von „Alles-ist-Scheiße-lass-mich-in-Ruhe“ konnte sie Kai zur Weißglut treiben. Vor allem ihre Weigerung, Sport zu machen, ließ ihn daran zweifeln, dass sie seine Tochter war. Dabei sah sie ihm lächerlich ähnlich. Sibylle verstand es als Phase weiblicher Pubertät. Spätestens in zwei Jahren würde Leonie ein anderer Mensch sein.

„Hey!“, grüßte Leonie mit verschlafener Stimme, guckte aber an Sibylle vorbei.

„Na, Nini? Ein bisschen besser?“, fragte Sibylle teilnahmsvoll. Leonie war mit starken Halsschmerzen mittags aus der Schule gekommen und hatte sich sofort ins Bett gelegt.

„Geht so.“

„Soll ich dir was aus der Apotheke holen?“

„Nee, schon gut.“ Leonie nieste. „Danke!“, schob sie nach.

Sie nahm sich eine Packung mit Zimties vom Regal und stellte das Schälchen dafür auf die Granitplatte.

„Nini, nein! Füll das woanders ein! Papa will das doch nicht.“

Leonie gab ein „Pfff“ von sich und ging mit dem Porzellan zum Spülbecken.

 

Sibylles Smartphone blinkte. Sie hatte einen Anruf verpasst – von Nora. Da klopfte es bereits an der Tür zum Hauswirtschaftsraum. Im nächsten Moment stand Nora in der Küchentür.

„Hi, ihr Süßen!“ Nora bedachte Sibylle und Leonie mit einem strahlenden Lächeln, langte ohne zu fragen in die Schachtel mit den Zimties und stopfte sie sich in den Mund, gab Sibylle mit vollem Mund ein Küsschen, setzte sich mit Schwung auf die Granitplatte und ließ die Beine baumeln. Ihre weißem Chucks machten rhythmisch „popp, popp“ an der Schranktür darunter.

„Was machen wir mit dem Wetter?“ Nora flogen beim Sprechen ein paar Krümel aus dem Mund.

„Wir schicken es in die Wüste!“, antwortete Sibylle und fand sich damit ziemlich geistreich.

„Der ist gut!“ Nora lachte.

„Nini, was würdest du denn machen?“, fragte Nora. „Hast du noch ein paar von den geilen Zimties für mich?“

Leonie stellte sich eine gute Armlänge vor Nora auf, nahm einen aus dem Schälchen und warf ihn in einem Bogen in Noras Richtung. Diese fing ihn mit dem Mund auf, grinste und leckte sich die Lippen.

Sibylle rief: „Ich auch!“

Leonie warf, aber die Stückchen landeten in ihren Haaren. Nora rutschte von der Platte, hielt Sibylles Kopf fest, stellte sich auf die Zehenspitzen und sog die Stückchen von Sibylles Scheitel in ihren Mund.

Leonie verschluckte sich, hustete. Nora klopfte ihr an den Rücken. „Wieder ok?“, fragte sie. „Mmh.“, machte Leonie.

„Hast du nun eine Idee, Nini?“ fragte Sibylle und strich sich versonnen über die Haare.

„Wir könnten mal wieder in unserem Gartenhaus feiern. Das haben wir das letzte mal an meinem zehnten Geburtstag gemacht. Ist dann zwar kein Straßenfest, aber es ist so romantisch da."

„Nini, das ist phantastisch!“, rief Nora.

„Ja, und alle bringen Laternen und Lampions mit.“, begeisterte sich Sibylle.

„Und Fackeln und Feuerkörbe!“, ergänzte Leonie.

„Bei dem Wetter?“, dämpfte Kai die Stimmung. Er stand im Türrahmen. Seine Joggingschuhe hatte er bereits ausgezogen. Auf Socken ging er zur Schublade mit den Lappen.

„Ach, Kai, du gelernter Pessimist!“, stöhnte Nora und trat ihm leicht in den Hintern.

„Papa hat schlechte Laune. Ich gehe wieder ins Bett.“, sagte Leonie.

„Nein, warte! Es war deine Idee mit dem Fest im Gartenhaus. Ich finde sie super. Lasst uns doch zusammen rausgehen und gucken, was dort möglich ist! Und du, Kai, du reißt jetzt ‘ne Flasche Prosecco für uns Großen auf! Damit die Stimmung nicht mieser wird als das Wetter.“, sagte Nora.

„Ich hole Gläser.“, sagte Sibylle und verschwand im Wohnzimmer.

„Ich ziehe mir meine Crocs an.“ sagte Leonie gleichzeitig und ging in den Hauswirtschaftsraum.

Kai fuhr mit einer schnellen Bewegung seiner ausgestreckten Hand von Noras Schritt hoch zu ihrem Mund. Nora formte einen Kussmund.

Sibylle kam mit den Gläsern auf einem kleinen Tablett zurück.

„Wo sind meine Crocs? Habt ihr die gesehen?“, rief Leonie von nebenan.

„Nein.“, sagten Sibylle und Kai im Duett.

„Vielleicht sind sie in der Garage. Du musst nachgucken. Wir gehen schon mal raus.“, sagte Sibylle etwas lauter.

Kai schlüpfte in seine Gartenschuhe vor der Terrassentür. Die drei stapften über den aufgeweichten Rasen, Kai mit der Flasche in der Hand, Sibylle mit den Gläsern.

Nora öffnete ihnen die Tür des Gartenhauses, die beiden stellten die mitgebrachten Sachen auf das Tischchen. Sibylle drehte sich zu Nora um, Kai stand hinter Nora. Sibylle machte einen Schritt auf sie zu, blieb direkt vor ihr stehen, küsste sie auf den Mund. Kai umfing Nora von hinten und presste sich an sie.

Leonie hatte ihre Latschen gefunden. „Gwitsch, gwitsch“ machen sie auf dem feuchten Gras. Sie blickte nach unten.

Die Tür zum Gartenhaus wurde aufgerissen, Nora stürzte heraus, rutschte an Leonie vorbei Richtung Gartentor.

„Feiern wir nun hier?“ rief Leonie ihr hinterher.

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© Anne Wöckener-Gerber