Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Club der Gefickten

 

Der Vortragssaal war überheizt. Nanke spürte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. Sie wählte einen Platz weit entfernt von der Heizung, stellte ihren Rucksack auf den Stuhl und sich dahinter. Wie immer am ersten Dienstag im Monat gebe es nach einer schneidigen Begrüßung durch die Stellvertreterin des Chefs ein Frühstücksbuffet mit zu wenig Tee. Anschließend folgte ein thematischer Teil, dessen Aktualität an den Brillengestellen der Referenten zu erkennen war. Gegen Mittag war der Spuk vorbei. Man trollte sich – je nach Veranlagung – gelangweilt, mit Kopfschmerzen oder um ein Gerücht reicher an seinen Arbeitsplatz. Außer denen mit einer halben Stelle, wie Nanke. Die fuhren nach Hause, holten das Kind aus der KiTa ab, gingen zum Friseur oder zur Zahnärztin. Nanke freute sich auf einen freien Nachmittag. Jenna wollte nach der Schule mit zu einer Freundin gehen und erst zum Abendessen nach Hause kommen.

„Laurent Schmidbauer-Hervieux.“ Eine Stimme wie eine Höhle.

Nanke drehte sich um. „Aaah, der Neue! Halbe Stelle. Doppelname. Ich auch. Nanke Meier-Nazarek. Willkommen im Club der Gefickten!“ Nanke grinste den neuen Kollegen breit an. Es war gar nicht leicht, seine Augen in der starken Behaarung durch Bart, Augenbrauen und Kopfhaar zu finden. „Gesichts-Macchia“, dachte Nanke und grinste noch breiter.

Der Kollege neben ihr, dessen Vornamen sie immer wieder vergaß (Dieter? Rainer?), und bei dem sie sich auch nicht sicher war, ob sie sich überhaupt duzten, rollte mit den Augen. Nanke tat es ihm nach und ließ ihre Hüfte mit einem Schwung gegen seine stoßen. Karriere würde sie so nie machen, aber Spaß haben und frei bleiben. Sie wollte ebenso wenig verzichten auf hochhackige fuchsiafarbene Stiefeletten zu einer Jeans mit Schlangen-Print wie auf schnelle, freche Sprüche, gerne auch oversexed. Dabei ging es im Betrieb doch so seriös, verbindlich und dezent zu.

Laurent Schmidbauer-Hervieux‘ Bart bewegte sich ein wenig, aber die Augen blieben traurig. Könnte es ein Lächeln gewesen sein?

Der Begrüßungs-Parcours dauerte an. 54 Mitarbeitende waren sie, elf Frauen und 43 Männer, wenn alle da waren, aber das war nie der Fall, auch heute nicht. Burnout war mittlerweile der beliebteste Grund zum Fortbleiben. Nanke nutzte eine Lücke im Defilee. „Laurent Schmidbauer-Hervieux? Wie bist du denn zu dem Namen gekommen?“

Er fixierte sie mit seinen atlantikgrauen, schmalen Augen einen Moment zu lange.

„Scheiße“, dachte Nanke, „ich habe ihn einfach geduzt.“

„Und du?“, fragte er.

Nanke zupfte an einer Strähne, die sich aus ihrem hoch gesteckten Haar gelöst hatte. „Nee, ich habe zuerst gefragt. Also?“

„Mein Vater ist Normanne, meine Mutter Fränkin, aufgewachsen bin ich in Deutschland.“

„Wow!“, dachte Nanke, „Ein ganzer Satz und sogar länger als seine Name. Da geht noch was.“  Mit rauer Calvados-Stimme sagte sie: „Mein Vater ist Normanne. Wilhelm, der Eroberer, was?“

„Nein, er lebt noch.“ In der Höhle brannte ein Feuer. „Du bist dran!“

„Okay. Viertelschlesische Halbfriesin mit Durchnittsarschloch von Ex-Mann. Alles klar?“

Der Chef knuffte ihn leicht mit der Faust auf den Oberarm und schob ihn zum nächsten Tisch. Nanke schaute ihnen nach.

„Hi, Nanke! Darf ich mich zu dir setzen? Ich glaube, wir beide müssen heute wieder Konferenz-Bingo spielen.“

 „Du bist meine Rettung, Svenja!“ Nanke umarmte kurz Svenja, die junge Kollegin. Sie gehörte nicht zum Club, da sie bei ihrer Heirat kürzlich den Namen ihres Mannes angenommen und eine Vollzeitstelle hatte, aber Nanke hatte ihr prophezeit, dass sie aus einem anderen Grund wahrscheinlich bald dazugehören würde: Svenja hatte ihre Abteilung personell nicht im Griff und machte dadurch Minus. Das würde sich der Chef nicht lange mit angucken. „Für dich ändern wir unsere Satzung“, hatte Nanke zu ihr gesagt. Svenja wusste, wie das gemeint war.

Die beiden setzten sich kommunikativ bis konspirativ über Eck an den Tisch. Weitere Kollegen gesellten sich muffelig dazu. Nanke hatte sieben oder acht dieser Veranstaltungen gebraucht, um die Namen und Abteilungen einigermaßen zu beherrschen. Es fiel ihr schwer, sie zu unterscheiden. Die meisten trugen schlecht sitzende Jeans und billige Pullover in Blau-Grau-Braun-Tönen. Nur der Chef stach heraus in seinem sahnefarbenen Jacket. Nanke war sich unsicher, ob diese Scheußlichkeit Absicht oder Gleichgültigkeit war. So hatte sie ihm bei der letzten Betriebsfeier nach einigen Wodkas nahegelegt, doch mal was anderes zu tragen, wo er doch eigentlich recht gut aussah. Doch er hatte sie nur angeguckt, als hätte sie ihm Sex mit Tieren empfohlen.

Svenja beugte sich zu Nanke herüber und flüsterte ihr zu: „Hast du den Neuen schon gesehen? Komischer Vogel. Irgendwie finster. Hast du seinen Namen verstanden? Lorenz Schmid XY?“

Nanke guckte ernst, legte die Stirn in Falten, schob sich die Haare vor das Gesicht, senkte ihre Stimme in Bass-Tiefe: „Laurent Schmidbauer-Hervieux.“

Svenja lachte laut auf und kassierte dafür einen strafenden Blick der Vize-Chefin, die sich am Podium aufgebaut hatte. Nanke konnte sich nicht dazu durchringen, mit dieser Frau Mitleid zu empfinden. Sie wusste, dass sie – Frau Schoedel, im Kollegenkreis „Schoedelbasisbruch“ genannt – vom Leben ihr Fett weg gekriegt hatte, aber anstatt es loswerden zu wollen, hortete sie es am Rumpf, dass sie aussah wie ein Panzerschrank auf Beinen. Auch mit ihrem heutigen Aufruf rechtfertigte sie ihren Spitznamen erneut: „Wir, die Betriebsleitung, erwarten, dass Sie alle sich ein Mal pro Jahr für eine Woche – auch über die Feiertage – rund um die Uhr für Einsätze bereit halten. Das gilt auch und gerade für die Teilzeitkräfte. Ausnahmen können nicht genehmigt werden.“

„Na, toll!“, dachte Nanke, „Ich sollte mir eine neue Stelle suchen.“ Sie schob sich ein Kaugummi in den Mund, verschränkte die Arme trotzig vor der Brust und ließ die Blasen im Mund zerplatzen. Es war laut, aber man konnte nicht genau orten, woher der Knall kam. Frau Schoedel ließ ihren Blick genervt über die Tische gleiten. Nanke bemerkte, dass Laurent Schmidbauer-Hervieux sie beobachtete. Sie beschloss, ihn Lauschi zu nennen. Beim Konferenz – Bingo verlor sie. Hastig verabschiedete sie sich von ihren Kollegen, selbst Svenja bekam nur ein flüchtiges Küsschen.

 Nanke kramte im Gehen in ihrem Rucksack nach dem Autoschlüssel. Als sie hochsah, erkannte sie, dass Laurent Schmidbauer-Hervieux allein auf dem Parkplatz stand. Aus ein paar Metern Entfernung rief sie ihm zu: „ Wartest du auf jemanden?“

„Nein.“

Sie kam näher. „Ist was mit deinem Auto?“

„Ich habe kein Auto.“

„Was hast du denn für einen Auftrag?“

„Das geht dich nichts an!“

Nanke drehte sich um und zeigte ihm über die Schulter hinweg den Stinkefinger.

„Kannst du mich mitnehmen?“

Nanke ging weiter und höhnte: „Mach’s dir selbst!“

„Du bist das einzige Clubmitglied, stimmt’s? Du bist die einzige Gefickte!“, schleuderte er ihr hinterher.

Nanke wirbelte zu ihm herum, schoss auf ihn zu und zischte ihn an: „Wenn du so ein Schlauer bist, warum hast du dann nur eine halbe Stelle und kein Auto?“

„Weil ich meine schwerbehinderte Tochter pflege. Weil meine Frau depressiv ist und die meiste Zeit in der Psychatrie. Hast du eine Ahnung, was ein Spezialauto kostet, mit dem ich meine Tochter fahren könnte? Ich bin froh, wenigstens halbtags arbeiten zu können, rauszukommen, weg von Krankheit, Leid“, platzte es aus ihm heraus.

„Was für eine kitschige Scheiße!“, fauchte sie ihn an, „Da muss ich wohl dankbar sein, dass meine Tochter nur Legasthenie hat und einen Vater, der sich in jeder Hinsicht verpisst hat.“

Er fing an zu grinsen. „Willkommen im Club der Gefickten!“ Er drehte sich um und ging.

„Ey, Lauschi, wo willst du hin?“

„Ins Clubheim.“

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© Anne Wöckener-Gerber