Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Sich schwer machen

 

Rrratsch! Koffer auf. Erschöpft ließ sich Ariane auf die Bettkante sinken. Unwillkürlich befühlte sie ihr Knie, es war geschwollen und pochte. Um den Koffer aufzuklappen, hätte sie wieder aufstehen müssen, sie blieb sitzen und blickte sich in ihrem Schlafzimmer um. Ihr fiel auf, dass die Bettwäsche noch dieselbe war wie vor drei Wochen, als sie wegen der anstehenden OP ins Krankenhaus gekommen war. Maik hatte sie also nicht gewechselt. Auf ihrem Kopfkissen stand eine ausgetrunkene Tasse Espresso – Maiks Angewohnheit, die sie verabscheute. Sie fragte sich, warum sie ihm trotzdem jeden Morgen eine Tasse ans Bett brachte. Ariane vermutete, dass, würde sie Maik diese Frage stellen, er antworten würde: Weil du mich trotz meiner Fehler liebst. Komm, gib’s zu!“. Für ihre Mutter war klar: Weil du bescheuert bist. Du bist zu weich. Das warst du schon immer.“. Franziska, beste Freundin seit Kindertagen, würde eine Gegenfrage stellen: „Was würde passieren, wenn du es lässt?“. Ariane fragte niemand von den dreien. 

Ihr Handy brummte in der großen Louis-Vuitton-Handtasche, die Charlotte ausgesucht und Maik ihr zum 50. Geburtstag geschenkt hatte. Sie zögerte, ob sie es herausholen sollte, und tat es dann doch. Eine Nachricht von Franziska: „Naa??? Gibt’s was Neues von deinem Kur-
schatten? :)“ Ariane wusste, dass Franziska der Überzeugung war, Maik würde ihr nicht guttun, aber das tat ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Sie schrieb zurück: „Henri war nicht mein Kurschatten. Ich habe die Reha abgebrochen, bin seit einer halben Stunde wieder zuhause.“

Ariane sah die zahlreichen weiteren Nachrichten und Mails und überflog sie: die bestätigte Hotelbuchung für Düsseldorf mit Charlotte zum Ordern der Kollektion für die nächste Saison, Termin mit der Bank, Termin mit dem Architekten wegen des Umbaus der Geschäftsräume, Pauls Gejammer aus Wien wegen seiner Doktorarbeit und Geldnot, der Pflegedienst für ihre Mutter mit der Bitte um ein Gespräch, von Henri: „Du bist abgereist ohne etwas zu sagen…“

Franziska hatte gleich reagiert: Dass du die Reha abgebrochen hast, hat mich nicht überrascht, vielmehr, dass du sie überhaupt angetreten hast. Zu Henri: Was nicht ist, kann ja noch werden – auch ohne Kur!“. Ariane schmunzelte. Sie übertrug sich die Termine in ihren Kalender und notierte sich eine To-do-Liste für den Abend: 1. Thilo und Götz anrufen wegen Mutter, 2. Architekten mailen wegen Bauantrag bei der Stadt, 3. Facetime mit Charlotte, 4. alle Mails in Ruhe lesen. Die 500 Euro für Paul überwies sie sofort. Sie nahm sich vor, Maik, wenn er nachher nach Hause käme, zu bitten, ihren Koffer auszupacken. Sie brauchte ihre Gehhilfen, die aber beim Wegsortieren störten. 

Sie schlug die Decke zurück und legte sich hin. Sie hörte Schritte auf dem Flur und Kindergeschrei. Die Tür wurde geöffnet. Isabell blieb überrascht stehen, der kleine Oskar auf ihrer Hüfte hörte auf zu plärren. 

„Oh, Ariane, du bist schon wieder zurück? Papa hat gar nichts gesagt. Ist was passiert? Wie bist du denn hergekommen?“ 

Ariane richtete sich auf. „Deinem Vater hatte ich auch erst heute Morgen Bescheid gesagt. Ich hatte mir ein Taxi genommen.“

Chiara flitzte an Isabell vorbei und blieb am Fußende stehen. Ihr Mund und ihr Shirt waren mit Tomatensoße beschmiert. Sie hüpfte auf der Stelle und rief: „Ane, Ane, Ane.“

„Habt ihr euch wieder Pizza bestellt?“, fragte Ariane. Chiara nickte. Isabell ergänzte: „Ja, hat Papa bezahlt. Da sind noch ein paar Stücke. Möchtest du eins?“ „Nein, danke! Chiara musst du heute nicht in die KiTa?“, fragte Ariane.

„Nö, Mama hat gesagt, ich bin krank.“, sagte Chiara und robbte unter das Bett. 

„Komm da raus! Wir müssen jetzt los! Sonst musst du hier alleine bei Ariane bleiben.“, fuhr Isabell ihre Tochter an. 

Chiara fing an zu weinen, Isabell schnappte ihre Hand und zog sie aus dem Zimmer. 

Ariane wühlte eine Schmerztablette aus ihrer Handtasche und humpelte ins Bad, um sich ein Glas Wasser zu holen. 

Das Handy auf dem Nachttisch vibrierte. Charlotte hatte eine Audio für sie gemacht. „Hi Mama! Schön, dass du wieder da bist. Im Geschäft läuft’s super. Gestern wurden die Sachen von dem neuen Brand geliefert – mega! Habe auch schon einiges bei Insta und WhatsApp gepostet. Kannst ja mal gucken!“

„Danke!!!“, schrieb Ariane zurück. „Ich bin stolz auf dich! Hattest du daran gedacht, einen Termin mit unserer Steuerberaterin zu machen?“

Upps, vergessen… Erledige ich gleich. Ich schaue heute Abend kurz bei euch rein.“, kam die prompte Antwort. 

Ariane seufzte. Charlotte hatte frischen Wind ins Geschäft gebracht, nicht nur wegen ihres selbstverständlichen Umgangs mit Social Media, sondern auch mit ihrem Wissen um Qualität und sicherem Gespür für Trends. Ariane vermutete jedoch, dass Charlotte sich ihre Souveränität bei der Beratung von Kundinnen im Hinblick auf Farben, Proportionen und Kombinationen nie würde erarbeiten können. Sie bemerkte Charlottes Erstaunen und Bewunderung, wenn sie zielsicher für eine Kundin ein Outfit zusammenstellte, auf das weder Charlotte noch die Kundin gekommen wären, aber beide dann begeisterte.

Ariane suchte unter „Kontakte“ nach ihrem Bruder Thilo. Die Anrufliste zeigte ihr, dass es schon zwei Monate her war, dass sie miteinander telefoniert hatten. Sie erinnerte sich an das Gespräch und verzog das Gesicht. Wie immer in letzter Zeit war es um die Pflege ihrer alten Mutter gegangen. Ariane legte das Handy wieder beiseite. Sie stützte sich an der Kommode ab und schaffte es ohne die Gehhilfen ins Bad, wo sie sich die Wanne einließ. Sie gab ein paar Tropfen von dem Bergamotte-Öl hinzu und ließ sich hineingleiten. Sofort umgab sie eine wohlige, entspannende Wärme und sie schloss die Augen. 

Die Tür wurde aufgerissen, Maik platzte herein. Ariane schreckte hoch. „Hallo, meine Schöne!“, grüßte er. Er musterte ihren nackten Körper. „Hast du ein paar Kilo zugenommen?“ Er tätschelte seinen Bauch. „Ich auch. Zu viel Pizza in letzter Zeit.“ Er zog sich Schuhe, Strümpfe und Hose aus und schwang seine Beine ins Wasser. „Ah, das tut gut!“, seufzte Maik. Ariane stellte ihre Knie auf. Er bewegte seine Füße hin und her. „Du sagt ja gar nichts.“, bemerkte er. 

„Tut mir leid.“, sagte Ariane, „Ich bin ziemlich fertig, habe mich wohl etwas verhoben mit der abgebrochenen Reha. Ich wollte ein bisschen abschalten, bevor ich heute noch bei Thilo und Götz wegen Mutters Pflege anrufen muss.“

Maik schnaubte verächtlich. „Deine Ar…“, er hielt inne und korrigierte sich, „Deine nichtsnutzigen Brüder kannst du in der Angelegenheit getrost übergehen. Regel du das mit dem Pflegedienst und teil ihnen das Ergebnis dann einfach nur mit. Auf gute Ideen, Unterstützung 
oder gar Geld wartest du bei denen vergebens. So ersparst du dir Frust und ewig lange Diskussionen ohne Ergebnisse. Und“, fügte er zwinkernd hinzu, „hast mehr Zeit für mich.“

„Du hast Recht.“, sagte Ariane, „Die beiden könnten zu den Buddenbrooks gehören.“ 

„Buddenbrooks? Sind das die schrecklichen Leute, die das Haus gegenüber gekauft haben?“, fragte Maik. 

„Nein, die heißen Schrader.“, lenkte Ariane ab. „Du hast deine Heilige Familie und ich meine.“ Ariane streckte ihre Beine wieder aus. 

„Buddenbrooks, Schraders, Heilige Familie… Was hast du denn genommen?“

Ariane ließ heißes Wasser nachlaufen. „Heilige Familie meint, dass einem die eigenen Eltern, Geschwister, Kinder, Enkelbesonders wichtig sind, dass man sie verteidigt gegen Kritik, auch wenn sie berechtigt ist.“ Ariane bedeckte ihre Brüste mit den Armen. 

„Du hast doch gar keine Enkel.“, entgegnete ihr Maik.

„Nicht so wichtig!“, beendete Ariane das Thema. „Danke für den Tipp bezüglich des Pflegedienstes. Du bist mein bester Berater.“

Maik nickte zufrieden. „Da ist von heute Mittag Pizza übrig. Soll ich für dich auch ein Stück warm machen?“ „Ja, gerne! Ich komme gleich, bin aber noch nicht so schnell.“

Maik zog seine Sachen an und drehte sich zum Gehen. „Maik, kannst du mir bitte mein Handy vom Nachttisch holen?“

„Klar!“

Ariane schrieb an Henri: „Im Januar bin ich zur Fashion Week in Berlin. Sehen wir uns?“

 

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© Anne Wöckener-Gerber