Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Geisterstunde

 

Karoline wachte auf. Sie musste doch eingeschlafen sein. 01.56 Uhr zeigte ihr Smartphone. Geisterstunde, ihre Geisterstunde. Dann rasselten die Geister mit den Ketten, raubten ihr den Schlaf. Sie hatte ihnen Namen gegeben wie Kinder ihren Kuscheltieren: Spensti, Dämönchen, Ungetümel. Alle drei hatten am vergangenen Tag ihr Unwesen getrieben. Dämönchen drängte sich als erster auf:

Das fahle Licht der Straßenlaternen fiel auf Hagens langsam ergrauenden Bart. Karoline fuhr mit einer Hand durch seine dichten dunklen Haare, die viel störrischer wirkten als sie tatsächlich waren. Sie liebte das Gefühl in der Handfläche, wenn sie sich unter dem zarten Druck zurückbogen und sich sofort wieder aufrichteten. Sie hätte ihn gerne geküsst, doch er lag an ihrem Rücken. Durch ihr hauchdünnes Sleep-Shirt spürte sie die Knöpfe seines Hemdes und die Gürtelschnalle.

„Wollen wir spielen?“, fragte Hagen.

Seine Nähe machte Karoline stark und übermütig. „Ja, ich fange an.“, antwortete sie, eine dumpfe Ahnung ignorierend.

Es war ein Frage-Antwort-Spiel, das sie vom ersten Moment an, als sie sich am Telefon kennengelernt hatten, trieben. Es ging darum, die Abgründe des Anderen auszuleuchten. Karoline erinnerte sich beim besten Willen nicht mehr daran, was sie ihn an diesem Abend gefragt hatte. Partielle Amnesie wie nach einem Schock. Sie wusste nur noch, dass er ruhig und gelassen geantwortet hatte. Dann sagte er: „So, jetzt bin ich dran!“.

Karoline wand sich unter seinen Fragen. Alles, was sie wollte, war, ihm zu gefallen. Sie wollte witzig sein, tiefgründig, leichtfüßig, überraschend und das am besten alles gleichzeitig.

„Ich kann nicht mehr. Ich gebe auf“, sagte sie völlig erschöpft.

Sein heißer Atem in ihrem Nacken waren Sprechblasen: „Ich wusste, dass du aufgibst. Das hättest du nicht gedacht, dass dir der gute Hagen so zusetzen würde.“ Wie zufällig fuhr er mit einer Hand über ihre aufgerichteten Brustwarzen, zog dann bestimmt ihr hochgerutschtes Hemdchen hinunter, stand auf und ging.

Karolines Herz hämmerte, ihr war übel und sie hätte sich am liebsten in Tränen aufgelöst. Sie fühlte sich wie ein Wackelpudding, ein zitronengelber Wackelpudding in seiner durchsichtigen Künstlichkeit. Hagen hatte ein paarmal draufgehauen, und sie war als unappetitlicher Matschhaufen zurückgeblieben. Da saß sie nun auf ihrem scheiß Begehren, ihrer scheiß Scham, ihrer scheiß Blödheit.

Sie hatte sich schon überlegt, mit dem Typen etwas anzufangen, der auf den Meetings häufig zu ihr hinüberlinste, sich in den Pausen in ihrer Nähe herumdrückte und mit schüchternen Blicken in ihrem Dekolleté versank. Wahrscheinlich hätte sie es etwas abgelenkt und entspannt. Er war nicht übel, vor allem sein charmanter Weinberg-Dialekt und seine Augen, die so braun und rund waren wie feinste Schokotrüffel. Aber trotz seines Dr. rer. nat. und seiner leitenden Position im Betrieb zu devot, zu verheiratet. Eine Affäre unter Kollegen war ohnehin brisant genug, und er würde sie vermutlich ernst nehmen. Also Finger weg!

Hagen war kein Six-Pack-Bauch-Schönling. Er bezog seine Attraktivität aus Mischungen, Brüchen, Unvollendetem: skalpellscharfe Intelligenz, Brunft-Bariton, maßgeschneiderte Tweedjackets, die so abgetragen waren, dass seine Studentinnen sie schon wieder hip fanden, mütterliche Fürsorge für seine Freunde, zuverlässige Unpünktlichkeit. Hagen war Dozent an der Musikhochschule. In dieser Funktion hatte Karoline ihn kennengelernt. Letztes Jahr war es ihre Aufgabe, die Betriebs-Weihnachtsfeier zu organisieren. Sie hatte von dem Studierenden-Chor gehört, der sich auf Filmmusik spezialisiert hatte und den man für solche Anlässe engagieren konnte. Der Leiter war Hagen.

Karoline mochte Musik nicht. Sie fühlte sich ihr ausgeliefert. Entweder ging sie direkt ins Höschen oder in die Tränendrüse, aber meistens störte sie einfach nur – egal, ob Mozart, Brahms, die Stones oder Lady Gaga. Die Hölle stellte sie sich als immerwährende Peking-Oper vor.

 

Ungetümel brachte sich in Erinnerung:

„Lini, meine Lini! Da bist du ja endlich!“, rief Karolines Vater mit weinerlicher und freudiger Stimme, als er sie durch den genau 30 cm breiten Spalt der geöffneten Tür seines Zimmers im Alters- und Pflegeheim wahrnahm. Er saß angezogen – sogar mit Lederschuhen – in dem geraden, festen Sessel. Das rechte Bein stand aufgrund einer verpfuschten Hüft-OP wie bei einer Puppe ohne bewegliche Knie ab.

„Huhu, Vater!“, grüßte sie zärtlich und gab ihm einen dicken Kuss auf die unregelmäßig rasierte Wange. Er brummte zufrieden und griff nach ihrer warmen, mit Sommersprossen übersäten Hand, die der seinen so ähnlich war.

Karoline versuchte so oft wie möglich in der Mittagspause die 2,8 km hinüber zum Heim zu fahren, um ihren Vater zu füttern.

„Vater, ich geh‘ mal in die Küche und gucke, ob das Essen schon fertig ist.“

„Hast du gekocht, Lini?“

„Nein, aber ich habe auf dem Speiseplan gelesen, dass es heute Spaghetti Bolognese und als Nachtisch Rote Grütze mit Vanillesoße gibt.“

Karoline ging hinaus in die große Diele auf dieser Etage des Heims, die mit einer offenen Küche ausgestattet war. Ihr Vater hatte all das noch nicht gesehen, er weigerte sich, sein Zimmer zu verlassen. Eine Frau unschätzbaren Alters in einem weißen Kittel füllte eine Riesenportion Nudeln auf. Karoline nahm noch ein Schälchen Nachtisch von der Theke und fuhr alles auf einem Wägelchen, das zugleich als Tisch dienen konnte, zu ihm.

„Lini, meine Lini! Da bist du ja endlich!“ Er guckte auf den Teller. „Hast du gekocht?“

„Nein, Vater. Das haben die hier vom Heim gemacht. Ich habe es nur aus der Küche geholt.“

„Welche Küche?“

Seit ihr Vater nach dem Tod ihrer Mutter vor einem halben Jahr hier war, war er immer unbeweglicher geworden – sowohl geistig als auch körperlich. Bekannte meinten: „Ist das nicht schrecklich, ihn so verfallen zu sehen?“ Eigentlich war das keine Frage, es war eine Feststellung. Karoline empfand das anders und sie hatte keine Lust mehr, sich zu erklären, gar zu rechtfertigen. Sie ging gerne zu ihrem Vater. Das Leben war bei ihm auf das Wesentliche reduziert.

Sie band ihm ein Lätzchen um, setzte sich ihm gegenüber. Er öffnete den Mund, und sie schob ihm den Löffel hinein. Er aß langsam und mit Behagen. Es sei denn, es gab grüne Paprika. Dann schimpfte und fluchte er auf Russisch, das er als junger Soldat hinter der Front mit Leichtigkeit gelernt hatte. Einige Pflegekräfte hielten ihn deshalb für einen Russland-Deutschen. Karoline amüsierte das und stellte diese Einschätzung nicht richtig –wozu auch?

„Ich habe gestern mit Malte telefoniert. Er wird dich am Wochenende besuchen kommen“, sagte Karoline.

„Mhm.“

Wahrscheinlich wusste er in dem Moment nicht, dass Malte sein Sohn war. Karoline mochte ihren Bruder, aber alles, was er sich zugelegt hatte, war ihr zuwider: seine schnippische Frau Iris mit dem Fitness-Tick, Sohn Till, der der Überzeugung war, mit Wave-Board-Fahren Millionär werden zu können, Sohn Jork, der in einer Hochbegabten-Parallelwelt lebte, die mit Druiden bevölkert war, und als Elfjähriger noch immer die meiste Zeit auf dem Schoß seiner Mutter saß, Maltes hochdotierten Job in einer Landesbehörde, den er nur hatte, weil er damals gleich nach dem Mauerfall bereit war, in den Osten zu gehen, seine Ausreden, weshalb er den Vater nur alle drei Monate besuchen kam – für einen Nachmittag.

Karoline befeuchtete die Stoffserviette mit warmem Wasser und wischte ihrem Vater damit über Mund und Kinn. Er grunzte wohlwollend und sah ihr ernst in die Augen. „Danke, Lini!“ Dann folgte die Prozedur, an die sie sich noch immer nicht gewöhnt hatte: umständlich holte er sich das Gebiss heraus und leckte es ab. Karoline musste jedesmal den Brechreiz unterdrücken und versuchte deshalb, rechtzeitig woandershin zu gucken, aber es gelang ihr nicht immer. Das war auch ein Grund mit, dass sie in den vergangenen Monaten fünf Kilo abgenommen hatte.

„So, Vater, ich muss wieder los, an den Schreibtisch.“

„Oh, du hast immer so viel zu tun – und so schwere Arbeit. Das hätte ich nicht gekonnt.“

Karoline hätte seine Arbeit nicht machen können und wollen: als „Schulmeister“ verstand er sich. Mit den Kindern fremder Leute sich rumzuärgern, das wäre nichts für sie.

Sie küsste ihn noch einmal herzhaft. „Tschüss, Vater! Bis morgen!“

„Tschüss, tschüss!“

 

Spensti kicherte böse:

Karoline stellte ihre Füße auf die kurzen Kufen der skandinavischen Designer-Büromöbel. Sie lehnte sich ein wenig zurück gegen die lagunenfarbene Polsterung der Rückenlehne und schaukelte sanft. Der Konferenzraum atmete noch den Geschmack und die Menschenfreundlichkeit der ehemaligen Chefin des Unternehmens.

Der neue Chef hatte das Wesen eines entzündeten Arschlochs: seine Ruhe trügerisch, leicht reizbar, mindestens einmal am Tag so schmerzhaft, dass Tränen flossen.

Karoline hatte sich für den Betrieb interessiert, ein ehemaliger Kommilitone hatte ihr davon vorgeschwärmt. Und der Chef hatte sie geködert mit dem Versprechen, sie auf der neuen Stelle verstärkt als Coach einzusetzen. Sie unterschrieb den Vertrag, zog von Karlsruhe in den Hamburger Speckgürtel und musste nach wenigen Tagen und zwei Gesprächen mit dem Chef feststellen, dass ihn sein Gerede vom Vortag nicht interessierte. So machte sie wieder das, was sie sowieso gut konnte. Bald würde sie deshalb wieder für zwei, drei Wochen ins Ausland müssen. Sie hoffte, nach Douala – der Himmel über Afrika konnte süchtig machen. Außerdem ging ihr Französisch immer geschmeidiger über die Lippen. Wenn es blöd kam, würde sie allerdings nach Perm fliegen müssen. Diese jungen russischen Männer, mit denen sie dort zu tun haben würde, fand sie zum Kotzen. Breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen bauten sie sich vor ihr auf. Wenn sie grüßte, erwiderten sie den Gruß mit knappem Kopfnicken, verkniffenem Mund und blickten zur Seite. Ihre Mimik war zu einer Putin-Maske erstarrt, aber die Augen sprachen: „Du bist eine Nutte. Alle Frauen sind Nutten. Außer meiner Mutter.“

Karoline wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie hörte, wie der Chef einen Abteilungsleiter, der z. Z. im Urlaub war und vorzeitig entlassen werden sollte, gerade zum Stück Scheiße des Tages erklärte: „… der bis heute betont, gerne Leiter der Abteilung bleiben zu wollen, nicht nur die Bemühungen um eine einvernehmliche Regelung seiner Tätigkeit nach dem vertraglich vereinbarten Termin kaum unterstützt hat, sondern stattdessen die seiner Ansicht nach unrechtmäßige Vorgehensweise des Aufsichtsrats auf vielerlei Weise öffentlich gemacht hat, sah sich der Aufsichtsrat genötigt rasch zu handeln.“. Wahrscheinlich würde es sie auch irgendwann treffen, doch die Prinzipien des Aikido hatte sie sich auch geistig zu eigen gemacht, sodass sie meinte, sich vor dem Moment nicht fürchten zu müssen.

 

Es gab Situationen in Karolines Leben, da wäre sie lieber Fleischereifachverkäuferin gewesen, hätte irgendwo in der deutschen Provinz gewohnt, egal wo, Hauptsache nicht auf dem Dorf, in einer 1,5-Zimmer-Wohnung und alle – der Chef, die Nachbarin und der Aikido-Trainer – hätten sie nur unter ihrem Spitznamen gekannt: Lini. Solche Momente hatten ihre Zeit, meist zwischen halb zwei und halb drei Uhr nachts.

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© Anne Wöckener-Gerber