Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Sehen und gesehen werden

Das hellrote Kleid mit den Dreiviertel-Ärmeln war schon an der Schaufensterpuppe bei Peek & Cloppenburg in Größe 34 eine Scheußlichkeit, aber an Nicole war es die Art Hingucker wie bei einer Missbildung. Die fleischigen bläulich weißen Unterarme quollen unter dem Stoff hervor. Sie wirkten dicker als bei Konfektionsgröße 46 zu erwarten. Nicole hatte sich dazu eine von diesen Statement-Ketten und einen matten Lippenstift in einem abgestimmten Rot gekauft.

Jetzt stand sie da im Foyer des Theaters. Suchend blickte sie sich um. Richard hatte sich angeboten, ihre Jacke mit an der Garderobe abzugeben. Sie vermutete, dass er dabei einen Bekannten getroffen hatte und nun die Stadtpolitik – sein Lieblingsthema – diskutierte. Sie schaute auf ihr Handgelenk, doch die Armbanduhr hatte sie zuhause im Bad liegen lassen, weil sie für ihr Empfinden den Gesamteindruck störte. Gefühlt stand sie bereits zehn Minuten so da. Sie wurde unruhig, tat so, als würde sie sich die Fotos von den Aufführungen dieser Spielzeit, die an der Wand hinter ihr unter Glas hingen, betrachten, ging ein paar Schritte im Kreis.

 

Immer mehr Menschen strömten herein. Zwei Mädchen, etwa 16 Jahre alt, gingen dicht an ihr vorbei. Nicole konnte ihr überdimensioniertes Parfüm riechen, den abgeplatzten Lack an ihren zu Krallen modellierten Fingernägeln sehen. Sie strotzten vor Selbstbewusstsein. Die beiden musterten sie im Vorbeigehen mit über die Schulter gedrehtem Kopf. „Guck mal!“, sage die eine, „Da kommen Hässlich und Scheiße.“ Ihre zwillingsgleiche Freundin prustete los. Es versetzte Nicole einen Stich. Sie wusste, sie hatte zu viel genascht in letzter Zeit. Auf die Angewohnheit, mit Gummibärchen im Mund einzuschlafen, mochte sie dennoch nicht verzichten.

Richard tauchte auf der Treppe hoch ins Foyer auf. Sein blanker Schädel glänzte, der spärliche Haarkranz kurz geschoren. Das Licht der Kronleuchter ließ die beiden Ausbuchtungen an seiner Stirn besonders plastisch hervortreten. „Teufelchen“ nannte Nicole ihn deshalb manchmal, wenn er seine Geschäftspartner im Gespräch durch lange Pausen unter Druck setzte oder im Restaurant die Flasche Weißwein zurückgehen ließ, weil er seiner Ansicht nach 3°C kühler hätte sein müssen.

Er wollte sich demnächst aus dem Betrieb zurückziehen, aber Nicole glaubte nicht ansatzweise daran. Sie gab gerne damit an, dass die 15 Jahre Altersunterschied zwischen ihnen ihn jung hielten. Seine großzügigen Geschenke – vom japanischen Messerset bis zum himmelblauen Beetle Cabrio – betrachtete sie als Verdienst.

Nicole winkte ihm.

„In dem roten Kleid ist sie doch nicht zu übersehen.“, dachte Richard. Er mochte es nicht. Es trug zu sehr auf. Gesagt hätte er es jedoch nie. Er wusste um ihren Eigensinn, den die, die ihr wohlgesonnen waren, als durchsetzungsfreudig bezeichneten, und die anderen – die Mehrheit – als machtbesessen. Ihm war es im Grunde gleichgültig.

„Der alte Hintz hat mal wieder mit seinem letzten Auftritt in der Ratsversammlung geprahlt.“ Richard schüttelte den Kopf. „Dabei ist und bleibt er einfach nur ein Querulant.“

„Für den hast du mich hier eine Viertelstunde warten lassen?!“

Nicole guckte sich um, ob sie nicht doch noch jemand von der Stadtprominenz entdeckte, mit dem sie bekannt war. Niemand. Vielleicht lag es am Stück, überlegte sie. Es war ein Publikumserfolg, hervorragend besetzt und gespielt, aber leicht klamaukig. Sie stammte aus anderen Kreisen und wusste auch nach Hochschulabschluss und nach 20 Jahren recht erfolgreich im Beruf nicht sicher, was man dort tat oder besser ließ. Richard machte sich darüber lustig, indem er sie „Prol-Nicole“ nannte.

„Soll ich dir ein Glas Sekt holen?“, fragte Richard. Er spürte ihre Unzufriedenheit, hatte jedoch nicht die geringste Lust, sie zu thematisieren.

„Nein, danke! Vielleicht nachher in der Pause. Lass uns reingehen!“

Richard hielt ihre Karten schon in der Hand. Das Abo war ein Geburtstagsgeschenk für sie. Nicole hatte sich beklagt, dass sie – abgesehen von den Urlaubsreisen – wenig gemeinsam unternahmen. Sie hatte sich gefreut und fragte immer zehn Tage vor einer Aufführung, ob er sich den Termin notiert habe. Einmal hatte er es vergessen, die Geschäftsreise ließ sich nicht mehr verschieben. Da war sie derart eingeschnappt, dass sie Dr. Jansen – sein Vorname war ihm entfallen – einlud, sie statt seiner ins Theater zu begleiten. Dr. Jansen flirtete nicht mit Nicole, er machte ihr den Hof. Nicole kostete es aus.

„Dr. Jansen ist auch hier.“ „Wo?“ Ihr Kopf schoss herum. Sie reckte sich, um besser sehen zu können.

„Ach, irgendwo im Gewühl unten an der Garderobe. Komm jetzt,  du wolltest doch reingehen!“ Richard legte eine Hand auf die Mitte von Nicoles Rücken und schob sie mit sanftem Druck in Richtung Eingang zu ihren Plätzen – Parkett 3. Reihe Mitte.

„Ich gehe lieber nochmal schnell auf die Toilette. In der Pause muss man immer ewig anstehen.“, sagte Nicole und drehte sich seitlich weg. Selbst auf den hohen Schuhen war ihr Gang leicht nach vorne gebeugt. Ihr Kopf schien weiter vorne zu sein als die Fußspitzen.

„Immer schön mit dem Kopf durch die Wand.“, dachte Richard und sah ihr einen Augenblick lang nach. Er entschied sich, reinzugehen und sich bereits zu setzen. Er wollte noch einen Moment diese knisternde Spannung so kurz vor Beginn spüren. Fast alle Plätze in seiner Reihe waren eingenommen, sodass die anderen Besucher für ihn aufstehen mussten. Doch niemand verzog missmutig das Gesicht, wegen seiner schmalen Gestalt brauchte er sich an niemandem vorbei zu quetschen. Er klappte die Sitzfläche herunter und ließ sich in den nachtblauen Samt sinken.

Richard schloss die Augen und sog den unvergleichlichen Duft des Saals ein. Er öffnete kurz die Augen, um beruhigt festzustellen, dass die  beiden Frauen vor ihm in der Reihe kleiner waren als er und Frisuren hatten, die er als Schnittlauchlocken bezeichnet hätte, sodass er einen freien Blick auf die Bühne besaß.

Wieder schloss er die Augen. Es war warm und kühl zugleich – wie in Schichten. Die gedämpften Stimmen des Publikums, das Stimmen der Instrumente im Orchestergraben, die Klingel, die die Gäste ein letztes Mal aufforderte, Platz zu nehmen, die Beleuchtung, die runtergedimmt wurde – all das ließ Richard wohlig erschauern. Aufregung und Entspannung befanden sich in einer seltenen Balance.

Er bemerkte nicht, dass Nicole vor dem Spalt an der Tür stand, der von dem jungen Mann, der die Karten abriss, versperrt wurde. Ihre Augen blitzten wütend, einen Arm stieß sie mit ausgestrecktem Zeigefinger immer wieder in Richtung Richard vor.

„Guck mal!“, sagte Dr. Jansen zu seiner Frau, die in Reihe 5 saßen. Er deutete mit seinem Kopf hinüber zu der Szene an der Tür. „Wie peinlich! Die Arme!“

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© Anne Wöckener-Gerber