Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Getäuscht 

Er wusste es. Er wusste es so, wie er tagsüber auch ohne Uhr wusste, wie spät es war. Er hatte Heiko und Ellen bei Sitzungen, bei kurzen Begegnungen auf dem Flur, bei Betriebsausflügen beobachten können. Er wusste es: Ellen und Heiko hatten ein Verhältnis. Er war schon immer gut darin, so etwas zu erspüren. Sein Talent dafür hatte er auf Klassenfahrten entdeckt. Später im Studium konnte er mit sehr hoher Trefferquote voraussagen, welche Paare sich zu Semesterende ergeben würden, auch wenn die Betreffenden sich noch lange nicht in der Öffentlichkeit als solche zu erkennen gaben. Er konnte deren Blicke, deren Nähern und Entfernen, deren Aufeinander-Bezugnehmen wie Ley-Linien deuten. 

„Hallo Flo, wovon träumst du denn?“

Er drehte sich von der Kaffeemaschine in der kleinen Teeküche des Dezernats weg. 

„Ach, hallo Suse!“, grüßte er müde. „Ich warte nur auf meinen Kaffee.“, versuchte er die Kollegin abzuwimmeln. Er hatte keinen Nerv auf Susannes 1980er-Gerede. Meist fand er ihre Art übergriffig. In ihrem Studium der Sozialpädagogik hatte sie sich eine Gesprächstechnik angeeignet, die ihr Gegenüber infantilisierte oder als Opfer hinstellte. 

Andererseits wusste er an ihr zu schätzen, dass sie Gruppendynamiken sehr schnell erkennen und benennen konnte. Da war sie ganz klar und furchtlos. Der Leiter ihrer Behörde und Susanne rasselten regelmäßig zusammen. 

Susanne hatte ihn aber auch einmal Ellen gegenüber in Schutz genommen, als diese bei einem Team-Meeting behauptet hatte, er sei faul. Sie war Ellen über den Mund gefahren und hatte deutlich gemacht, dass das Problem bei Ellen lag. 

„Schon klar“, durchschaute sie ihn.

„Sag mal, Suse,“ Florian rieb sich das Kinn und guckte um die Ecke, um sich zu vergewissern, dass sie alleine waren, „glaubst du auch, dass Heiko und“

„Heiko?“, unterbrach sie ihn. „Heiko hat mal wieder eine Affäre? Das weiß doch das ganze Haus, dass er ein Tortenheber ist.“

„Tortenheber?“

„Ja, Frauenheld, Playboy, Casanova“, übersetzte Susanne. „Erinnerst du dich an Marina?“, fragte sie. „Ach nein, kann nicht sein, da warst du noch nicht hier.“, korrigierte sie sich. „Marina hat einen Suizidversuch unternommen, weil Heiko sich nicht ihretwegen von seiner Frau trennen wollte. Die ist dann weit weggezogen. Wenig später hat Heiko etwas mit Claudia, der Juristin aus Dezernat P, angefangen. Der hat immer was am Laufen. Na egal, die sind erwachsen.“

Florian drehte seinen Ehering. Susanne bemerkte es. 

„Nein, da brauchst du keine Sorge zu haben. Heiko würde deine Frau nicht anbaggern – zu jung, kinderlos. Da gibt’s dies Muster bei ihm: Die Frauen müssen mindestens 45 Jahre alt sein, damit die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft gering ist, verheiratet und Mutter, also familiär gebunden, außerdem mit enormem Bedarf an Beachtung.“

Florian war Heikos Sexleben völlig egal. Es machte ihn allerdings ein bisschen misstrauisch und vorsichtig, dass Heiko ein gutes Verhältnis, fast kumpelhaft, zum Chef hatte, aber als Kollege war er sonst in Ordnung.

„Perverser Narzisst?“, fragte Florian.

„Könnte sein.“, antwortete Susanne. 

Florian bereute seine Vertraulichkeit und wendete sich wieder zur Kaffeemaschine um. 

„Was anderes, Flo… Wo wir hier gerade ungestört sind… Hast du schon mal daran gedacht, dir logopädische Hilfe zu holen wegen deines Sprachfehlers?“

„Meinst du mein „Wasser im Zahn“?“, Florian betonte seinen Sprachfehler absichtlich. All die Demütigungenseiner Schulzeit prasselten wieder auf ihn ein. „Meinst du das?“ Bei jedem s klang es so, als habe er mit zu viel Speichel zu kämpfen. Er wollte Susanne nur noch loswerden. „Meinst du das?“

„Schon ok!“, sagte Susanne. „Ich habe kapiert.“ Sie ging. Im Gehen drehte sie sich nochmal um. „Die logopädische Praxis heißt übrigens „Mundwerk“. Die sind supi.“

Florian griff nach seinem Lieblingsbecher mit Shaun, the sheep, schenkte sich Kaffee ein und guckte durch das schmale Fenster auf die Betonfront des gegenüberliegenden Parkhauses. Der Einfahrt näherte sich ein kirschroter Bulli mit getönten Scheiben. Er wusste, dass Heiko so einen fuhr. „HA“, nannte er leise die beiden Buchstaben in der Mitte des Kennzeichens. „Heiko Ahrens! Heiko? Was willst du denn hier? Du hast doch Urlaub.“, sagte er gegen die Fensterscheibe. Er spürte die Unruhe, die ihn immer erfasste, wenn er Zeuge einer besonderen Begebenheit werden würde. Zwanghaft musste er sich dann die Hände reiben. 

Da huschte Ellen über die Straße, sah sich zu allen Seiten um und ging schnell zum Seiteneingang des Parkhauses. 

„Sex im Bulli! Ellen, jetzt bist du fällig!“ Florian wusste, dass das eine einmalige Chance wäre, die beiden in flagranti zu erwischen und Ellen damit im Griff zu haben. 

Er lief die Treppe runter, über die Straße ins Parkhaus. Er hockte sich hinter den nächsten Wagen und sah sich im schummrigen Licht um. Es war höchstens zu einem Viertel belegt, niemand zu sehen. In einer dunklen Ecke stand der Bulli. Florian beobachtete ihn durch die Scheiben des Wagens. Der Bulli schwankte leicht. Florian rieb sich die Hände. Er stand auf, sprintete zum Bulli und riss die Schiebetür auf.

Bis auf Tennissocken nackt lag Heiko auf der Rückbank. Florian starrte verdutzt auf die Tätowierung am unteren Rücken von Susanne, die nackt auf Heiko saß. 

„Du mieses Dreckschwein!“, brüllte eine kräftige Frauenstimme schräg hinter Florian – Ellen. Sie drängelte sich an ihm vorbei, zupfte mit einer flinken Bewegung Heiko die Strümpfe von den Füßen und stopfte sie sich in den BH.

„Suse hat ein Arschgeweih.“, sagte Florian in Ellens Richtung.

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© Anne Wöckener-Gerber