Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Kalt und heiß

 

Bei der Begrüßung mochte ich ihren albernen Nachnamen gar nicht aussprechen. „Guten Abend!“, sagte ich daher förmlich und reichte beiden kurz die Hand. Ich erinnerte mich an ihre Vornamen, ich hatte sie auf der Anwesenheitsliste beim Elternabend gelesen: Sonja und Marc.

Sonjas plumpe Pumps passten so gar nicht zu dem eng anliegenden kleinen Schwarzen, das ihren Typ vorteilhaft unterstrich. Marcs Smoking saß perfekt, wirkte aber hier im Landgasthof overdressed.

Während ich meinen Mantel zur Garderobe brachte, brillierte mein Mann in Smalltalk: „…  zauberhaftes Ambiente … mein Abtanzball damals … Kinder groß geworden…“.

An Tisch 19 sollten für uns Plätze reserviert sein. Also einmal quer durch den Saal. Ich hatte schon lange keine so hochhackigen Schuhe mehr getragen, sodass ich ängstlich das spiegelnde Parkett betrat. Vorsichtshalber hakte ich mich doch bei meinem Mann unter. Die Leute am Tisch kannte ich nicht, aber das Paar, das meinem Mann gegenüber saß, tat so, als müsste ich wissen, wer es ist.

Ich guckte auf meine Uhr: noch mindestens drei Stunden müsste ich bleiben, um nicht völlig ungesellig zu erscheinen. Ich gehe gerne früh zu Bett. Ich mag nicht mit anderen Männern tanzen.

Die beiden Plätze mir gegenüber waren noch frei. Es zog in meinem Rücken. Mein Seidenkleid in Dschungelfarben war ebenso edel wie raffiniert, aber in dem Moment sehnte ich mich nach dem Angora-Leibchen aus dem Schaufenster des Sanitätshauses. Ich überlegte, mich umzusetzen. Doch da standen Sonja und Marc schon überirdisch lächelnd hinter den Stühlen. Galant zog er ihren zurück, ließ sie Platz nehmen und setzte sich dann selbst.

Mein Mann hatte sein erstes Bier vor sich, war mit sich im Reinen und nickte den beiden verbindlich freundlich zu, um dann wieder mit seinem Gegenüber die Fußballergebnisse dieses Abends zu kommentieren. Woher wusste er nur, wer dieser bis unter die Haut rasierte Mann mit dem Hemd in der Farbe eines aufgeschürften Knies war? Vielleicht wusste er es auch gar nicht. Mein Mann, der sich weder Namen noch Gesichter merken konnte, aber beruflich viel mit Menschen zu tun hatte, hatte sich eine Art angeeignet, seine völlige Unwissenheit, seine schiere Not den Gesprächspartner nicht spüren zu lassen. Er blickte einen offen und warmherzig an, plauderte drauf los ohne Bereiche seiner Arbeit zu berühren. Wie von einem Wiegenlied ließen sie sich einlullen und erzählten nachher zu Hause, was für ein netter Mensch mein Mann doch sei – und trotz seines Titels so gar nicht eingebildet. Mein Mann hatte selbst nach einer Stunde nicht die leiseste Ahnung, wen er da vor sich hatte. Mittlerweile war es ihm auch egal. Ich bewunderte ihn dafür. Mein Mann ist Arzt.

Von meinem Platz aus konnte ich den gesamten Saal überblicken. Tisch für Tisch ging ich mit meinen Augen die anderen Gäste durch: schlaksige 15-Jährige, die durch die gepolsterten Schultern ihrer Jackets mit einem Hauch Männlichkeit versehen waren, junge Frauen, denen ihr Frausein noch nicht geheuer war und deshalb in Ballerinas herumlatschten, Mütter mit Denver-Clan-Frisuren, Väter, die sich unsicher waren, ob sie bereits den obersten Hemdknopf öffnen durften. Ich landete bei Sonja und Marc. Sie zeigten sich mir im Profil. Beide starrten in Richtung unserer Tochter und ihres Sohns, der in einem Frankenstein-Labor im Reagenzglas gezeugt sein musste. Einem Erbgut-Designer musste es gelungen sein, diesen Jungen in dem einen Moment wie die Sonja-Ausgabe von Marc erscheinen zu lassen und im nächsten genau andersherum. Absolut faszinierend. Beiden stand noch immer dieses süßliche Lächeln im Gesicht. Marc fuhr mit seinem rechten Zeigefinger in einer geschwungenen Linie über Sonjas sehr weiße Haut ihres Nackens. Es schien sie weder zu stören noch zu entzücken.

„Was möchten Sie trinken?“ Eine Aushilfskellnerin riss mich aus meinen Betrachtungen. Ich schwankte zwischen Tomatensaft und Pfefferminztee. „Eine heiße Zitrone, bitte!“, entschied ich mich schnell zum Kompromiss. „Ham wa nich.“ Um weitere Begegnungen mit ihr zu vermeiden, bestellte ich eine große Flasche stilles Wasser, an der ich den ganzen Abend würde herumnuckeln können. Sie hatte im Weggehen meine Handtasche, die ich quer über die Rückenlehne gehängt hatte, heruntergerissen. Ich bückte mich, um sie aufzuheben. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich direkt in Marcs Augen – nicht ganz; denn er hatte einen leichten Silberblick, wie ich jetzt erst bemerkte. Bezaubernd.

Marcs Mund öffnete und schloss sich, formte Wörter, die wohl an mich gerichtet waren, aber ich verstand nichts. Ich beugte mich über den Tisch, um ihm näher zu sein. „Wie bitte? Ich konnte Sie eben nicht verstehen.“ Irgendwie hatte ich die Hoffnung, er würde etwas Tiefgründiges, besser noch Abgründiges sagen, damit der Abend endlich Fahrt aufnehmen konnte. Mit leiser weicher Stimme sagte er: „Ich habe das Gefühl, dass es erst ein paar Monate her ist, dass wir Jonas zum Kindergarten gebracht haben – und jetzt? Jetzt sitzen wir hier!“ Ich ging in die Offensive: „Ja, wir sind alt!“ Er sah aus wie Ende Zwanzig und ich wie Ende Vierzig. Er seufzte, lehnte sich zurück und wandte sich seiner Frau zu, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.

„Oh, Salsa! Komm, Rieke, lass uns mal tanzen!“ Ein langsamer Walzer wäre mir lieber gewesen. Mir wird so leicht übel bei den vielen Drehungen. Ich spürte die warme große Hand meines Mannes im Rücken und ließ mich führen.

Als wir zurückkamen, waren Sonja und Marc nicht mehr auf ihren Plätzen. Ich sah mich um, konnte sie aber nirgends entdecken. Ich gab vor, auf die Toilette zu müssen, in Wirklichkeit war ich neugierig, neugierig, wo die beiden waren und was sie machten. In einer Nische beim Lieferanteneingang standen sie mit ein paar anderen Gästen und rauchten. Sie zogen tief und genussvoll an fiesen, stricknadeldünnen Zigarillos, die nur Leute rauchten, die jemand anderer sein wollten. Sie bemerkten mich und sahen mich wissend und herausfordernd an. Ich fühlte mich ertappt und fragte dümmlich nach der Damentoilette. Eine Frau zeigte auf die Schilder, die den Weg die Treppe hoch wiesen.

Dort nahm ich mir vor, den Abend nun selbst in die Hand zu nehmen: Ich würde meinem Mann die Hand weit oben auf den Oberschenkel legen, ihn mit zur Bar schleppen, mir zwei Gin-Tonic genehmigen, aufgedreht plappern, die Hand unter sein Hemd schieben, meine Stimme absenken und ihm den Vorschlag machen, mal kurz auf den abgelegenen Parkplatz bei der ehemaligen Zuckerfabrik zu fahren. Ha!

Die Flüssigseife ließ sich mit dem eiskalten Wasser gar nicht richtig abwaschen. Der Geruch von Milch und Honig – jedenfalls stand das auf der Flasche – an meinen Händen konkurrierte auf vulgäre Weise mit meinem Hermès-Parfum. Dieser Umstand inspirierte mich zu einer steilen olfaktorisch-theologisch-politischen These: Solange es Hygieneartikel mit dieser Duftnote gibt, gibt es keinen Frieden für das Heilige Land.

Auf dem Weg zurück in den Saal blieb ich im Treppenhaus bei dem Fenster auf halber Höhe stehen. Ich erhoffte mir einen Blick auf den Hinterhof mit huschenden Ratten und kiffender Landjugend. Doch zwischen den Müllcontainern standen Sonja und Marc. Sie stand leicht nach vorne gebeugt mit dem Gesicht zur Wand und stützte sich mit gestreckten Armen ab. Er stand hinter ihr und zog langsam den Reißverschluss ihres Kleides auf dem Rücken hinunter. Sie rührte sich nicht. Er nahm ein paar Züge von seinem Zigarillo und drückte die glühende Spitze auf ihr linkes Schulterblatt. Sie zuckte zusammen. Bevor sie aufschreien konnte, hielt er ihr von hinten den Mund zu. Abrupt drehte er sich um und sah zu dem Fenster hoch, von wo ich alles beobachtet hatte. Ich wusste nicht, ob er mich aufgrund der Beleuchtung und der Entfernung erkennen konnte. Ich duckte mich weg, aber sein schamloses Grinsen traf mich noch. Ich blieb einen Moment auf den Stufen sitzen. „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte teilnahmsvoll ein Mädchen mit aufsteigender Laufmasche. „Danke, geht schon.“, erwiderte ich lahm und zog mich am Handlauf hoch. Zum Beweis machte ich ihr ein Kompliment zu ihrer Hochsteckfrisur und konzentrierte mich dann auf den glatten Stein der Treppe. Ich nahm den Weg zum Ausgang.

Draußen empfingen mich eine eisige Märznacht und verschwitzte Jugendliche, die grüppchenweise herumstanden und nichts mit sich anzufangen wussten. Als ich merkte, dass ich erbärmlich fror, nahm ich mir zum zweiten Mal vor, diesen Abend selbst in die Hand zu nehmen. Ich ging zur Bar und forderte: „Eine heiße Zitrone!“

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© Anne Wöckener-Gerber