Löchrig
„Tina Schmidt“, meldete sich eine mädchenhafte Frauenstimme am Telefon.
„Guten Tag, Frau Schmidt, mein Name ist Kaufmann, Hilke Kaufmann. Ist mein Mann bei Ihnen?“
„Äh, ich verstehe nicht… Wer ist denn Ihr Mann?“
„Oh, Sie wissen nicht Bescheid? Ich spreche von Volker Bode. Volker ist mein Mann.“, log Hilke, wie sie es mehrfach im Stillen geübt hatte. „Er hat mir davon erzählt, dass er ein Verhältnis mit Ihnen hat. Er braucht das eben ab und zu. Naja, und ich bin beruflich sehr eingespannt, ich habe ein Bestattungsunternehmen. Volker sagte, er führe heute nach Hamburg, und da dachte ich, er sei bei Ihnen. Also – kann ich mit ihm sprechen?“
Hilke genoss das verstörte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Sie spürte, wie dieses Huhn, dessen blasse Stimme wahrscheinlich mit einer durchschnittsdeutschen Haarfarbe einherging, in sich zusammensackte. Volkers Vorliebe für graue Mäuschen beschädigten ihre eigene Attraktivität. Das durfte er mit ihr nicht machen! Er wusste offenbar noch nicht, mit wem er sich angelegt hatte.
„Frau Schmidt?“
Hilke lehnte sich in dem cremefarbenen Ledersessel zurück und schlug die Beine übereinander.
„Frau Schmidt, ich kann gut verstehen, dass Sie jetzt durcheinander sind, aber Sie dürfen ihm das nicht übel nehmen! Er…“
„Er ist nicht hier.“, brachte Tina Schmidt gerade noch so heraus, bevor sie den Hörer auflegte.
Der Triumph schmeckte schon schal wie die Neige Bier vom Vorabend. Hilke starrte auf die Löcher in dem flauschigen Teppich, die ihre Absätze hinterlassen hatten.
Löcher – das war‘ s! Ins Knie, in den Schwanz – nein, am besten in den Kopf, geschossen mit seiner damenhaften Pistole, so zierlich wie das Handgelenk einer Magersüchtigen. Er hatte sie ihr einmal gezeigt und orakelt: „Man kann nie wissen…“ Doch! Kann man! Sollte man! Damals fand sie das anziehend und abstoßend zugleich – wie das von Verbrennungen entstellte Gesicht eines fremden Menschen am Nachbartisch. Doch jetzt fand sie sein mackerhaftes Gerede so schmierig und selbstüberschätzend wie das von einem Zuhälter. Wo war sie nur, die Pistole? Wo konnte er sie versteckt haben? Sie musste irgendwo in seiner Wohnung, dieser miefigen Bude sein.
Sie kramte in ihrer Handtasche mit Budapester Lochmuster nach dem Wohnungsschlüssel, den er ihr gegeben hatte, und fuhr mit dem Firmenwagen – ok, Leichenwagen – das kurze Stück zu seiner Wohnung.
Sie empfing ein Mief von alten Lederjacken und nassem Hund – Lolita. Wie konnte man seinen Hund nur Lolita nennen? So hießen nur Hündchen, die von Tunten die ganze Zeit auf dem Arm getragen wurden. Lolita wuselte heran, Hilke kickte ihn beiseite.
Sie wollte systematisch auf die Suche gehen. Doch plötzlich tat sie sich selbst so schrecklich leid, dass sie ein paar Tränen rollen lassen konnte, um die Mascara dramatisch zu verschmieren. Sie wusste, dass es banales Selbstmitleid war und nicht etwa Scham, enttäuschte Liebe, Verrat, großes Dr.-Schiwago-Ding. Selbstmitleid wie beim Kauf eines dänischen Designer-Kostüms, der diesen Monat absolut nicht drin gewesen wäre und vor ihrem Ehemann und Geschäftspartner verschwiegen werden musste.
Hilke war es sich schuldig, wenigstens noch so zu tun als suche sie die Pistole. Sie riss eine Schublade auf, abgenutztes Cromagan-Besteck schepperte. Sie schubste vorsichtig ein paar von seinen geliebten Bildbänden – völlig wahllos alles dabei: von Ornithologie bis zu Orientalischer Teppichkunst, bloßer Anstrich von Bildungsbürgertum – aus halber Oberschenkelhöhe aus dem Regal. „Wenn ich die alle ersetzen muss, …“, bremste sie sich und wischte die staubigen Hände an der Sofalehne ab. Sie ging ins Bad, um sie zu waschen.
Auf der Konsole stand das mittelklasseteure Parfum, das sie ihm gönnerinnenhaft – ganz besserverdienende Geliebte – geschenkt hatte. Sie nahm den Flakon und ließ den Inhalt mit ausgestrecktem Arm ins Waschbecken plätschern. Der intensive Duft von Asphalt und Wodka übte ohne Haut keine Wirkung auf sie aus.
Als sie aufblickte, sah sie im Spiegel eine Frau, die zu früh in die Midlife-Crisis geraten war. „Ich sollte mal wieder zum Friseur.“ Sie schob ihren colafarbenen Bob aus dem Gesicht. „Raspelkurz und platinblond“, versprach sie ihrem Spiegelbild.
Sie zog ein Kleenex aus der Schachtel, um sich die schwarzen Ringe unter den Augen abzuwischen. Als sie auf das Pedal des Mülleimers trat, schnellte der Deckel hoch und da am Boden lag sie, die Pistole. Hilke bückte sich danach. Sie erinnerte sie an die albernen Spielzeugpistolen ihres Bruders, aber sie lag schwerer und kalt in ihrer Hand.
Sie zwirbelte ein Papiertuch zu einem Röllchen zusammen und schob es in den Lauf. Mit einem Wattestäbchen stopfte sie ein weiteres fest nach und legte die Waffe akkurat zurück. Sie begann wieder zu atmen.
Auf dem Esstisch lagen ihre Handtasche und sein Wohnungsschlüssel. Sie ließ ihn in ein Seitenfach gleiten und zog die Tür mit einem leisen Schnappen hinter sich zu. Schmunzelnd dachte sie: „Man sollte immer wissen!“.