Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Rötungen

 

„Ein Glas Aperol Spritz und schon sind da diese Flecken im Gesicht, am Hals und am Dekolleté“, jammerte Pia ihr Spiegelbild auf der Toilette des Szene-Lokals an. Sie ging gerne ab und zu in der Mittagspause zu einem kleinen, feinen Imbiss, gemeinsam mit ein paar anderen der wissenschaftlichen Mitarbeiter und Jan, der sich habilitierte.

Doch heute waren sie und Jan alleine hier. Die Singles unter ihren Bekannten hatten die Flucht ergriffen vor der deutschen Weihnachtsfamilienseligkeit und lagen nun am Strand von Ko Samui oder flirteten beim Après-Ski in den Dolomiten. Die Paare und Pärchen besorgten die letzten Luxusgeschenke oder schmückten gerührt den ersten gemeinsamen Weihnachtsbaum.

„Fast so rot wie dicken Schleifen in den Tannenbäumen vor dem Eingang“, seufzte Pia. Sie hasste ihre Hautkrankheit mit dem blumigen Namen Rosacea. Das klang doch eher nach einer alten englischen Rose mit betörendem Duft als nach einer chronischen Krankheit, von der 10% aller Deutschen betroffen sein sollten. Das jedenfalls hatte ihr Hautarzt behauptet – wahrscheinlich um sie zu trösten. Aber wo waren diese 820.000 Menschen? Gingen sie nicht mehr aus dem Haus und schützten eine Neurose vor? Kannten sie eine Therapie oder Diät gegen diese Pickelchen und Rötungen auf Stirn und Wangen? Nacktschnecken bei Vollmond darüber kriechen lassen? Ein Leben ohne Prosecco und Franzbrötchen?

Sie hasste sie so wie den Typen, der 28 Schritte entfernt auf einer gepolsterten Bank saß, deren Rot so künstlich wirkte, dass sie meinte, Erdbeerkaugummi zu riechen. Sie hasste den Typen, weil er ihr den Spaß vermasselte.

Seit fast einem Jahr kannten sich Pia und Jan nun. Andere Männer interessierten sie seither kaum. Die beiden One-Night-Stands waren Ausrutscher, Böckchen, eine Laune der Natur. Anders konnte sie die Nummer nach dem Abi-Treffen mit ihrem ehemaligen Deutschlehrer und die bei der Silberhochzeit von Tante und Onkel mit einem der Nachbarn nicht nennen. Zum nächsten Abi-Treffen würde sie nicht gehen und erst wieder zur Goldenen Hochzeit. Pia war sich dessen bewusst, dass Männer sie attraktiv fanden: ihre langen, schlanken Beine, den sinnlichen Mund, die großen bernsteinfarbenen Augen.

Jan musste doch bemerkt haben, dass sie scharf auf ihn war. Aus den kleinen Lautsprechern dudelte zum x-ten Mal „Last Christmas“ - für Pia ein Gute-Laune-Song, den sie jetzt mit eigenem Text mitsang: „Jan, du Arsch“. Dass er verheiratet war und zwei süße Kinder hatte, das könnte ja gerne auch so bleiben. Hey, nur ein bisschen Spaß! War das zu viel verlangt? Pia schnitt sich eine Grimasse. Wie schnell man hässlich sein konnte. „Okay, letzter Versuch heute!“, spornte Pia sich an und ging zurück zu Jan. Sie schlängelte sich mit Hüfteinsatz durch den mäßig besetzten Raum, die dicken Adventskerzen auf den Tischchen flackerten ihr hinterher.

„Du hast ganz schön Farbe bekommen“, meinte Jan schmunzelnd.

„Ich passe mich meiner Umgebung an.“ Im selben Moment ärgerte sich Pia über diesen dämlichen Spruch und bestellte eine Bloody Mary. „Weil morgen Weihnachten ist.“ Die Bedienung lächelte dünn, aber Jan lachte herzhaft, er mochte Pias Humor.

Pia sah seinen Mund mit dem Hauch Schokoladenkuchen an der Oberlippe näher kommen. Sie hatte ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, weil es ihm etwas Unvollkommenes verlieh. Wahrscheinlich reizte sie gerade das an ihm – dieses Perfekte: Als Pole mit Mitte 30 ruckzuck das Schuldeutsch vervollkommnet, das slawisch blonde Haar alle drei Wochen geschnitten, die Zähne so ebenmäßig wie weiß, der Schreibtisch an der Uni aufgeräumt, nie ein schmuddeliger Rand an den Manschetten, stets ein aufmunterndes Wort und einen heißen Kaffee für die gebeutelten Mitarbeiterinnen wie Pia, und jedes freie Wochenende ab zur Familie nach Gdansk. „Bestimmt hat sie den Witz gar nicht verstanden.“, raunte er Pia zu.

Pia starrte auf die verspiegelte Wand ihr gegenüber, aber sie sah sich nicht. Sie rührte in ihrem hohen Glas. „Ping, ping“ machte es, wenn der langstielige Löffel gegen das Glas kam. Jan trank keinen Alkohol, jedenfalls hatte sie das noch nie erlebt – weder den Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, noch den Sekt auf einer Promotionsfeier oder ein Bier auf dem Altstadtfest. Stattdessen stur Apfelschorle oder schwarzen Kaffee. „Ping, ping“.

„Du bist so still geworden. Dabei ist es doch noch gar nicht so spät“, sagte Jan und spielte damit auf Pias Schlafmützigkeit nach 19 Uhr an.

„Ich bin mir zu anstrengend in deiner Gegenwart. Bei dir muss ich mich immer benehmen und zusammenreißen. Das macht mich müde.“

Jan sah sie entgeistert an. „Vorwurf oder Geständnis?“

Ping, ping.

„Kannst du eigentlich mal was geschehen lassen, einfach so?“ Pia sah ihm während ihrer Frage in die Augen und versuchte, darin zu lesen, aber er wirkte so beherrscht wie immer und hielt ihrem Blick stand.

Sie hörte Jan irgendwas mit „Kontrolle“ und „das ist in mir drin“ sagen. Was hätte sie auch anderes erwarten können? Dass er ihr ins Ohr hauchte: „Komm, lass uns zu mir gehen!“ und sie dann leidenschaftlich küsste? Er redete noch immer und guckte sie dabei eindringlich an. Er hätte auch Polnisch sprechen können, Pia hätte genauso wenig verstanden.

„Pia?“

„Hm?“

„Pia, ich muss noch kurz zur Uni, um meine Unterlagen zu holen. Kommst du mit? Ich kann dich dann mit dem Auto nach Hause bringen.“

„Okay“, antwortete Pia matt.

 

Im Seminargebäude war es überall dunkel. Pia musste nach dem Lichtschalter tasten. Das Deckenlicht zuckte. Der Fahrstuhl, in den sechs Personen passen sollten, stand offen. Pia mochte es, für ihr unbekannte Mitfahrer ein nachdenkliches Gesicht aufzusetzen, um anzumerken, dass dort nicht einmal ein Sarg hineinging, es sei denn, man stellte ihn aufrecht. Die meisten guckten dann nur betreten und schwiegen sich an ihr vorbei. Nur Jan hatte mit einem polnischen Sprichwort darauf reagiert und es dem Sinn nach übersetzt: Tote besitzen kein Stehvermögen. Pia war damals verblüfft, dass ihr jemand die Show stahl, doch dann hatte sie losgeprustet. Seither war das Sprichwort zu einer Art Running Gag zwischen ihnen geworden. Pia hatte zwar Mühe mit den verschiedenen schnell aufeinanderfolgenden Zisch-Lauten, aber Jan verstand.

Pia drückte auf den Knopf für den vierten Stock. Die Türen schlossen sich.

„Seltsam“, sagte Jan, „mit dir in einem Aufzug macht gar nicht verlegen“ und sah sie offen an.

Pia nutzte die wenigen Sekunden für eine gekonnt gespielte klaustrophobische Attacke und brachte Jan damit zum Lachen.

In seinem winzigen Arbeitszimmer suchte Jan seine Sachen zusammen. Pia stellte sich an das Fenster, das die ganze Breite des Raums einnahm, und sah hinüber in das Nachbargebäude, wo die altphilologische Fakultät untergebracht war.

„Mach mal bitte das Licht aus, Jan!“

„Wieso?“

„Dann kann ich dir drüben besser etwas zeigen.“

Er schaltete das Licht aus und stellte sich neben Pia ans Fenster. Der gegenüberliegende Raum im 3. Stock war erleuchtet, eine Reinigungskraft stieß einen Staubsauger hin und her.

„Guck mal! Da!“ Pia zeigte in Richtung des Schreibtisches, auf dem zwischen vielen Büchern eine übergroße goldfarbene Hand stand, die den Stinkefinger zeigte. Sie nahm sich zum 117ten Mal vor, bei nächster Gelegenheit herauszufinden, wessen Arbeitsplatz das war.

„Der Typ hat bestimmt einen an der Wurzel“, kicherte Pia.

„Das ist wohl sein Schutz“, sagte Jan scharf, wobei er das „sein“ betonte.

Pia drehte sich ein wenig zu ihm um und sah ihn fragend an. Sein Blick war müde. Sie legte beide Hände auf seine Brust, auf die Herzgegend. Jan schloss die Augen. Mit eiskalten Fingern öffnete Pia Knopf für Knopf sein Hemd. Jan atmete flach. Pia schob den Stoff auseinander. Im fahlen Licht von gegenüber erkannte sie, dass sein Rumpf übersät war von kleinen Narben, nässenden Stellen und roten Wucherungen.

„Was ist das?“, fragte sie vorsichtig.

„Was meinst du, was es ist?“

„Hautkrebs?“

„Tote haben kein Stehvermögen.“

Da explodierte die Scham auf Pias Wangen.

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© Anne Wöckener-Gerber