Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Seelenflüsterer

 

Arvid winkte seiner Frau, die an ihm mit ihrem Fiat Punto vorbeifuhr, zu. Das Fahrrad, mit dem er wie immer in der Stadt unterwegs war, kippte dabei leicht. Er liebte seine Frau, wie er oft betonte. Christiane war ihm gegenüber absolut loyal.

„Und mit wem betrügt dich deine Frau?“, fragte Regine, die neben ihm an der roten Ampel stand, und fand sich damit kühn.

Arvid und Regine waren sich oft morgens gegen viertel nach sieben auf dem Weg zur Arbeit an dieser Ampel begegnet. Meist war Regine kurz vor ihm da. Irgendwann hatte er ihr zum Gruß zugenickt. Sie hatte gelächelt und „Hallo“ gesagt. Wenig später hatte sie auf ihn gewartet, auch wenn sie dabei ein paar Grünphasen verpasst hatte. Er hatte dann von weitem gewinkt. „Wir scheinen den selben Rhythmus zu haben.“, hatte er schließlich gesagt. „Sieht so aus.“, hatte Regine gesagt und war ein bisschen rot geworden.

„Meine Schwester meint,“, fuhr Regine fort, „dass ich Dieter mit dir betrüge. Sie nennt das „emotionale Affäre“. Sie hatte uns bei meiner Geburtstagsfeier beobachtet.“

„Ich würde das, was wir haben, als Seelenverwandtschaft bezeichnen.“, entgegnete Arvid und bedachte Regine mit einem zärtlichen Blick.

„Manchmal sieht er aus wie ein verliebter Junge.“ dachte Regine.

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Mit wem betrügt dich Christiane?“

Arvid lächelte schief und guckte hoch in das Laub der Rotbuche über ihnen.

„Christiane betrügt mich mit unserer Praxis.“, sagte er. „Sie hat schon wieder eine neue Mitarbeiterin eingestellt. Neben dem lerntherapeutischen Team, der Logopädin und der Ergotherapeutin haben wir seit Anfang der Sommerferien auch eine Musiktherapeutin. Ihre Ferienkurse waren überraschenderweise ausgebucht. Ist ja toll, aber bedeutet auch noch mehr Arbeit für Christiane mit dem ganzen Verwaltungskram und der Organisation.“

Arvid guckte auf seine Armbanduhr. „Lass uns los! Deine Klasse wartet, und ich muss mit der Musiktherapeutin ein Mitarbeitergespräch führen. Wir sehen uns ja auch das ganze Wochenende.“

„Oh ja, ich freue mich riesig darauf!“ Regine schob sich auf ihren Sattel und fuhr Richtung Schule. Das Stückchen, das sie noch gemeinsam hatten, fuhr Arvid ihr auf dem schmalen Radweg hinterher. Er betrachtete ihre nackten, sehr weißen Unterschenkel, der Jeansrock war hochgerutscht. Er wunderte sich wieder, dass sich trotz des vielen Radfahrens bei ihr kein Muskel abzeichnete. Insgesamt war ihr Körper schlank, aber teigig.

An der nächsten Kreuzung musste Arvid abbiegen. Regine drehte sich kurz um und rief: „Tschüss! Bis morgen!“

Arvid schloss sein Rad an und guckte nochmal schnell auf sein Smartphone, ob Christiane sich bereits wunderte, dass er noch nicht in der Praxis war, aber nichts. So schrieb er schnell eine Nachricht an Regine: „Hab‘ einen schönen Tag, Königin meiner Seele! Dein A.“. Sofort nach dem Versenden löschte er sie.

Die Tür zur Praxis stand offen. Christiane saß hinterm Eingangstresen am Computer. Sie lächelte, als Arvid hereinkam. „Guten Morgen!“, sagte er förmlich und tat so, als sei er ein unbeholfener Kunde. „Kann ich bei Ihnen auch Nachhilfe im Fach „Liebe“ bekommen?“

Christiane spielte mit. „Nein, hier nicht, aber ich kann Ihnen gerne Privatunterricht geben.“

„Nehm‘ ich!“, lachte Arvid.

Christiane wechselte zum Geschäftlichen: „Miriam ist auch schon da. Du hast doch gleich das Mitarbeitergespräch mit ihr.“

Arvid klopfte an die Tür des Raums, der seit acht Wochen für die Musiktherapie hergerichtet war.

„Ja, bitte!“, war Miriams helle Stimme zu hören.

„Hallo Miriam!“ Arvid reichte ihr die Hand. „Wir beide sind diesmal verabredet. Christiane hat ja das Bewerbungsgespräch mit dir geführt und dich eingestellt. Heute darf ich auch mal.“, sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu.

„Hallo Arvid, guten Morgen! Ja, ich freue mich, dich endlich kennenzulernen. Wir  sind uns bisher nur kurz begegnet.“

„Leider!“, stimmte Arvid zu. „Das hatte auch damit zu tun, dass wir erst zwei Wochen Urlaub hatten, und ich war anschließend eine Woche auf Fortbildung zum Thema Linkshändigkeit.“

Arvid sah sich im Raum um. Miriam folgte seinem Blick. In den Regalen erkannte er Trommeln, ein Rhythmik Set, ein Monochord, eine Kinderharfe.

„Eine gute Ausstattung habe ich von euch bekommen. Danke!“

„Das gehört zu unserem Programm: Die Leute, die hier arbeiten, sollen sich wohlfühlen. Wie geht’s dir bei uns?“

„Sehr gut! Nach neun Jahren Pause wegen der Kinder, nur ab und zu mal ein Kurs bei der VHS, bin ich froh, wieder arbeiten zu können. Seit meine Kinder zur Schule gehen, bin ich auch noch überzeugter davon, wie wichtig Musiktherapie ist. Dass in der Schule vor allem kognitive Leistungen verlangt und bewertet wird, finde ich manchmal geradezu unmenschlich.“

Miriam warf ihre überschulterlangen dunkelbraunen Haare zurück.

„Das sehe ich genauso.“, pflichtete Arvid ihr bei. „Ich habe auf Lehramt studiert. Während des Referendariats wuchs in mir die Überzeugung, dass das deutsche Bildungssystem mit Fleiß gegen die Wand gefahren wird. Ich bin dann nach ein paar Jahren ausgestiegen und habe mit zwei Gleichgesinnten diese Praxis eröffnet. Seither hat sich viel verändert, aber das Herumdoktern an einem nicht mehr zeitgemäßen System geht weiter. Die Opfer landen dann bei uns.“

„Ja, genau!“, unterbrach ihn Miriam. „Unsere älteste Tochter hat in der Grundschule nicht richtig Lesen und Schreiben gelernt. Sie musste zu einer Lerntherapie. Jetzt geht sie zur Waldorfschule.“

„Unfassbar!“ Arvid klatschte sich leicht mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Wir leben ja gut davon, aber lieber wäre mir, unsere Arbeit wäre überflüssig.“

Miriam strahlte ihn an und klatschte Beifall. Ihre Brüsten wippten unter der zarten Bluse.

Arvid verbeugte sich übertrieben.

„Kannst du das Klavier überhaupt brauchen?“, fragte Arvid. „Wenn nicht, lasse ich es wieder zu uns nach Hause bringen.“

„Doch, doch! Das ist wunderbar. Leider sind meine Kenntnisse ziemlich eingerostet. Spielst du?“

„Zuhause hatten sie keinen Nerv mehr auf mein Geklimper. Ich konnte mich jedoch nicht davon trennen. Deshalb steht es hier.“

Arvid setzte sich ans Klavier und spielte die ersten Takte von Alicia Keys‘ Empire State of Mind.

„Aaah!“, schwärmte Miriam.

Arvid drehte sich zu ihr um und suchte ihren Blick. Miriam stand auf und stellte sich seitlich hinter ihn und begann zu singen.

Es klopfte an der Tür, Christiane kam herein. „Arvid, Telefon für dich. Die Mutter von dem Tom mit Dyskalkulie.“

Arvid ging zu seinem Schreibtisch. Christiane hatte das Gespräch zu ihm durchgestellt. „Guten Morgen, Frau Wenzel! Schön, dass Sie sich nochmal melden. Ich bin noch in einem Gespräch. Ich nehme mir dann gleich Toms Unterlagen vor. Kann ich Sie zurückrufen? Fein! Danke!“

Arvid fuhr seinen Computer hoch. Regine hatte ihm am gestrigen Abend eine Mail geschickt: „Mein lieber Arvid, in Gedanken bin ich schon ganz bei unserem gemeinsamen Wochenende. Es war ein (unfreiwillig?) genialer Vorschlag von Christiane, dass sie, Dieter, du und ich eine Fahrradtour am Kanal machen. Es könnte eine Gelegenheit sein, dass wir mal wieder ein paar Stunden für uns allein haben. Und zwar folgendermaßen: Wir könnten Christiane und Dieter, die beide untrainiert sind und nur Hollandräder haben, immer wieder abhängen, bis sie genervt sind und die Rücktour mit dem Ausflugsschiff machen. Was hältst du von meiner Idee? Sei umarmt! Deine Regine“.

Arvid lehnte sich zufrieden zurück. „Da schau her! Ein unmoralisches Angebot.“ Er schob seine Hand in die Hose und malte sich die Situation, auch wenn er sie für unwahrscheinlich hielt, aus. Er fand Regine körperlich wenig attraktiv und vor dem üblen Mundgeruch, den sie manchmal hatte, ekelte er sich, aber diesen Schritt wollte er auch nicht ausschließen. „Que sera, sera“, summte er vor sich hin und antwortete ihr: „Que sera, sera, whatever will be, will be…“.

Auf seinem Smartphone ploppte eine Nachricht von Regine auf: „Dieter betrügt mich übrigens mit der Partei. Versammlung hier, Ausschuss da. Kuss!“

Arvid schrieb ihr zurück. „Die Partei, die Partei hat immer Recht… ;)“. Er löschte sorgfältig ihren Chat und die Mails, für die er sich ein extra Konto zugelegt hatte.

Arvid ging wieder rüber in das Musikzimmer zu Miriam. „Tut mir leid für die Unterbrechung! Was anderes: Ich habe gerade einen Ohrwurm „Que sera, sera“. Weißt du, wie der Refrain weitergeht?“

„…whatever will be, will be. The future’s not ours to see. Que sera, sera. What will be, will…”, sang Miriam sofort weiter, stemmte ihre Hände in die schmale Taille und wiegte sich dazu sanft im Rhythmus.

„Upps, ich habe die Zeit vergessen.“, entschuldigte sich Arvid für die Unterbrechung. „Ich muss noch die Mutter von Tom zurückrufen.“ Ist das jetzt okay für dich, Miriam? Wenn irgendwas ist, komm einfach zu mir!“

„Alles gut. Danke!“

Beim Rausgehen war sich Arvid sicher, dass Miriam ihm nachschaute.

Er setzte sich an seinen Computer und fand in Miriams Personalakte die Daten, die er brauchte: 40 Jahre, verheiratet, 2 Kinder (9 und 6 Jahre).

Christiane sah durch die angelehnte Tür. „Frau Wenzel hat schon wieder wegen Tom angerufen. Ich habe sie auf den Nachmittag vertröstet.“

„Du bist ein Schatz!“ Scherzend schob Arvid nach: „Dafür räume ich heute Abend auch die Spülmaschine ein.“

Im Internet klickte er sich durch die verschiedenen Angebote von Hanghang. Er überlegte, eins dieser Instrumente mit seinem überirdischen Klang für Miriams Ausstattung zu kaufen als Überraschung.

Es klopfte. Miriam steckte ihren Kopf durch die Tür.

„Hast du Lust, in den Herbstferien einen Kurs mit mir zusammen anzubieten?“

„Du hast mich durchschaut.“, sagte Arvid und lächelte hintergründig.

Mit dem Hang wollte er nun noch warten. 

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© Anne Wöckener-Gerber