Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber
Kurzgeschichten von Anne Wöckener-Gerber

Tiefer, höher, weiter

 

„Ich finde es furchtbar, dass die Erde eine Kugel ist.“, sagte Hanna. „Mir wäre es lieber, sie wäre eine Scheibe.“

Der dicke schwarze Strohhalm in ihrem Smoothie kippte von der Mitte an den Rand des Glases. Im Hintergrund triefte Frank Sinatra mit „I did it my way“. „Wie passend!“, dachte Hanna und richtete den Strohhalm wieder auf.

Nico verdrehte die Augen. „Hör endlich auf zu grübeln! Das isch nicht sexy!“

Sein schwäbisches „sch“ fand Hanna so abtörnend wie Socken in Sandalen. Wäre da nicht seine tiefe Stimme mit der bayrischen Satzmelodie gewesen, hätte sie ihn schon längst verlassen. Ein paar mehr Gründe, es nicht zu tun, gab es dann doch.

„Du bist so oberflächlich, so platt.“, sagte sie so teilnahmslos wie möglich, „Tief ist nur deine Stimme und hoch nur dein Schwanz.“ Noch vor ein paar Minuten wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, so etwas zu sagen. Es gab weder Anlass dazu, noch konnte sie sich vorstellen, dass es den jemals gebe. Bei Sarah, ihrer Mitbewohnerin war das sicherlich anders. Für die war Sex wie Schokolade essen und Beziehungsstress wie Muskelkater. So ein Satz fühlte sich noch ein bisschen fremd an – wie damals die Zahnspange, aber auch irgendwie lässig und abgeklärt.

„Oh, das Fräulein Sainte Nitouche wird vulgär – geil!“, höhnte Nico.

Er kreuzte die Arme vor sich auf der Tischplatte, die abgekauten Fingernägel waren nicht mehr zu sehen. Er senkte den Kopf ein wenig und guckte Hanna schräg von unten an, dass sie meinte, er müsse sie absolut hinreißend finden.

„Komm, lasch uns zu mir gehen!“

Nico legte einen 20-Euro-Schein – schnöselig viel Trinkgeld, dabei war er gar kein Schnösel – unter sein halb volles Glas Cola und half Hanna in das rehbraune Kaschmir-Cape, für das sie zwei Monate in den Semesterferien gejobbt hatte.

Draußen auf der Straße drehte er einen Zeigefinger in ihre roten Locken und lächelte verführerisch.

„Warum haben sich deine Eltern eigentlich getrennt?“, fragte Hanna.

„Was soll das denn jetsch?“

„Na, als ich vor einem halben Jahr bei euch war, war davon noch gar nichts zu merken. Und du hängst doch so an deiner Mutter.“

Nico wandte sich ab und stiefelte los. Es sah bei ihm immer so aus, als ginge er bergan.

„Meine Mutter hat einen Neuen.“ Er vergrub seine Hände tief in seinen Manteltaschen.

In ihrem schmalen Rock hatte Hanna Mühe, seinem Tempo zu folgen. Sie hakte sich bei Nico ein. Er nahm eine Hand aus der Tasche und schob sie unter ihrem Cape und dem flauschigen Wollpullover auf ihren nackten Rücken. Hanna klemmte ihre Hand in die eine Gesäßtasche seiner Jeans. „Verschränkt“, dachte sie.

„Schran-ke, Schran-ke, Schran-ke“, klackten ihre Schuhe auf den Platten der Fußgängerzone, die wohl wegen des trüben Wetters nur mäßig belebt war.

Eine Frau mit ostasiatischen Zügen kam ihnen entgegen. Nico blieb stehen und guckte ihr nach. „Nach dem Studium gehe ich wieder nach Japan. Da gibsch noch richtige Frauen.“

Hanna hätte ihm in dem Moment gerne ein paar gescheuert. Auch das war ihr neu: Bei Nico hatte sie manchmal unbändige Lust, ihn körperlich anzugreifen und zu verletzen – ein gezielter Hieb auf die Nase oder Tritt gegen das Knie.

„Merkst du eigentlich noch was?“, fauchte Hanna ihn an.

„Wieso? Ich steh‘ da halt drauf“, gab er zu verstehen.

„Ich habe keine schwarzen Haare und Schlitzaugen, keine knabenhafte Figur, ich bediene dich nicht, ich widerspreche dir. Warum bist du mit mir zusammen?“

„Bischt eifersüchtig, hä?“

„Wie schafft er es nur wieder, mich aus dem Konzept zu bringen? Ja, ich bin eifersüchtig verdammt. Ich bin dermaßen eifersüchtig, dass ich ihm nachher einen blasen werde, obwohl er danach gleich einschläft und ich sehen kann, wo ich mit meiner Lust bleibe.“, dachte Hanna von sich selbst angewidert und starrte auf die Spitzen seiner ungeputzten italienischen Schuhe.

Nico zog sie an sich und küsste sie erst weich und warm und dann immer fordernder. Keiner ihrer Freunde, Affären, Partylaunen hatte sie je so geküsst: gleichzeitig einfühlsam und zärtlich und so wild und gierig. „Mehr, mehr, mehr“, war alles, was Hanna noch denken konnte. Sie sah sich in einem sahnefarbenen Brautdirndl aus Wildseide in Nicos Armen über das Parkett eines zünftigen Wirtshauses schweben.

„Ich find’sch gut, wenn Kinder junge Eltern haben“, flüsterte Nico Hanna ins Ohr. „Mein Vater war schon 42, als ich geboren wurde. Ich fand das immer gut.“, entgegnete Hanna.

„Vielleicht ist die Erde ja doch eine Scheibe“, dachte sie und ging weiter.

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© Anne Wöckener-Gerber